Eine Würdigung aus dem Jahr 1913


Die ersten Nekrologe auf Ernst Goll, ob in Vers oder in Prosa, in Form eines Gedenkartikels oder einer lyrischen Eloge, stammen samt und sonders aus der Feder gleichaltriger Weggefährten und Kollegen; alsbald aber zeigten sich auch Angehörige der älteren Autorengenerationen beeindruckt vom tragischen Schicksal und dem poetischen Vermächtnis des Frühverstorbenen. Neben Rosegger und Franz Goltsch ist hier besonders Hermann Kienzl zu nennen, ein Grazer Schriftsteller und Literaturkritiker, der 1905 nach Berlin übersiedelt war, von Berlin aus jedoch weiterhin regen Anteil nahm am literarischen Geschehen in seiner Heimat.
Kienzl verfasste eine ebenso ahnungsvolle wie aufschlussreiche Charakterstudie zu Ernst Goll und platzierte sie – wohl mit Bedacht – abseits der Grazer Presseöffentlichkeit, im "Salzburger Volksblatt". Dort erschien sie am 17. Juli 1913 unter dem gleichnishaften Titel „Asphodelosblüten im Mai“.
Gerade erst ein Jahr war seit dem Tod des jungen Dichters vergangen; ein Buch war erschienen, das seinen Nachlass davor bewahrte, in alle Winde verstreut zu werden; seine Gedichte hatten weithin Widerhall gefunden; eine Legende war im Entstehen.
Der Legendenbildung zollt auch Kienzl Tribut, wenn er behauptet, Goll sei „noch an seinem Sterbetage ein völlig Unbekannter gewesen“, doch derlei Verklärungen der biographischen Realität trüben nicht seinen Blick auf das Werk. Mit sicherem Gespür weiß er Größe und Grenzen, Rang und Eigenart von Golls Poesie zu erkennen und zu benennen, mit wenigen Sätzen und anhand exemplarischer Zitate gelingt es ihm, Ernst Goll als den „Dichter seiner Jugend“, als Stimme einer Künstlergeneration zwischen Aufbruch und Untergang zu begreifen. Kurzum: ein Text, der es wert ist, aus den vergilbten Zeitungsspalten befreit und heute wieder gelesen zu werden.      

Christian Teissl


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Quelle: ANNO-Datenbank der ÖNB

Asphodelosblüten im Mai

Von Hermann Kienzl, Berlin

Das aber ist mein Traum von Glück und Tod:
Vom reichen Mahl des Lebens aufzustehn,
Eh noch der rote Kerzenschein verloht
Und abschiednehmend die Genossen gehn.

Siegjauchzend noch am vollen Becher nippen
Und dann – zwei Augenblicke hellen Lichts
Und ein verklärtes Lächeln um die Lippen
Hinübernehmen in das große Nichts.
Ernst Goll

Am 13. Juli 1912 hat sich aus einem Fenster des zweiten Stockwerks der Grazer Universität ein Student in den Hof hinabgestürzt. Er fand, was er suchte, den Tod. Ein Jüngling mit vierundzwanzig Lebensjahren! Was ihn dazu trieb, sein Leben zu zerschmettern, war nicht das Elend der Sozialpolitiker, nicht die Krankheit der Mediziner. Die Komilitonen hatten ihn versonnen gesehen oder auch heiter. Sie wußten, bis auf ganz wenige, nichts von dem Einsamen, der von tiefster Einsamkeit verschlungen sein wollte. Dann sickerte durch Anteilnahme und Bestürzung ein Gerücht: ein Liebesroman, dem man, wie das schon des Publikums Weise ist, die herkömlichste Gestalt gab, so daß der „Fall“ des armen jungen Menschen gerade nur geeignet schien, in die Zeitungsrubrik „Selbstmord aus unglücklicher Liebe“ aufgenommen zu werden. Allmählich erfuhr  die Nachwelt doch die Wahrheit:
Ernst Goll war ein Dichter … Ein Dichter, dessen aus dem Grabe auftönende Lieder ein Rätsel lösten und ein anderes Rätsel, das ewigen Dichterherzens, aufgaben. Sehet da: Einer, der, das Kainszeichens des Träumers auf flammender Stirne, durch die Mitwelt ging. Einer, dem das Leben, von Millionen Dicknervigen mehr oder minder gleichmütig ertragen, allzu hart gewesen. Einer, der den Ausgleich nicht finden konnte zwischen Innen- und Außenwelt.
Ein Kranker also, ein Lebensunfähiger …? Ja, ein krankes Kind der Schöpfung, in dem sich die Schönheit  der Erde zu einer unstillbaren, zerstörenden Sehnsucht verdichtete; ein Seelenvetter der Hölderlin und Lenau und des engsten Landsmanns Hugo Wolf. Sein Wesen war – das sind Worte des Freundes, der Golls hinterlassene Gedichte herausgab - „die weiche Schwermut des Rebenlandes, das Traumhafte der südsteirischen Unendlichkeit, rein und liebeverschwendend, tagentrückt und rührend hilflos in Dingen des praktischen Lebens, gläubig an die Jugend und an das Glück, aber nie ohne jenen leisen Anflug von Melancholie, die den Himmel aller jener beschatten, welche gütigen und zarten Herzens sind.“ Über diesen Wehrlosen kam die Liebe, die den Harfenklang des Dichters weckte, die Liebe zu einem durch Geist und Gemüt hervorragenden Mädchen; und über ihn kam das Eumenidengefolge der Leidenschaft, kam der Widerstand und der Haß der Welt, die den Wert und das Recht zweier blühender Herzen an dem Tarif eines Steuereinnehmers abmaß und zu leicht befand. Der erotische Konflikt einer in unser Jahrhundert verirrten Wertherseele war jedoch der einzige nicht. „Es gab genug“, schreibt der Freund, „was außerdem noch, unsichtbar und sichtbar, ihn vorwärts drängte … Der furchtbare Zerstörungskampf, der sich im Innern des Dichters abspielte, entzieht sich der fremden Beurteilung. Aber ein Kampf ohnegleichen muß es gewesen sein, bis der Entschluß in ihm reife, ein Leben hinzuwerfen, das er nicht als König meistern durfte.“
Ist das beklagenswerte Los eines Jünglings, dem Thanatos die Mannestaten im Keim erstickte, ein triftiger Grund, die von tausend Gegenwarts- und Zukunftsfragen fiebrig bewegte Welt mit seinem stillen Andenken zu beschäftigen? Vielleicht räumen mir die Psychologen dieses Recht ein, indem sie erwägen, welch eine Seltenheit ein Mensch ist, der beim letzten Abschied die inbrünstig-wahren Worte sagen durfte:

„Mein Leben war ein Schönheits-Lobgesang
Und einer Sehnsucht bittende Gebärde.“

Doch, ob wir das Schicksal eines jungen Selbstmörders allgemeiner Erinnerung wert finden wollen oder nicht, er selbst lebt weiter, auch ohne die Hilfe der Biographen. Sein Schicksal ist ein Häuflein Asche, das sich dem Staub ungezählter Namenloser vermischen mag; sein Erlebtes sind Gedichte, die nicht sterben können. Zunächst in Golls Heimat, in der Steiermark, rauschen diese Lieder eines Toten mit Phönixflügeln empor. Dort, in Graz, in Cilli und anderen Städten, werden Akademien veranstaltet und die besten Geister und Künstler stellen sich in den Dienst der Pflicht, von dem Dichter das zu retten, was nicht mit seinen Hoffnungen zu Grabe ging. Ja, man bereitet die Errichtung eines Denkmals vor; ein Monument an rieselnder Waldquelle soll Bild und Namen des jungen Menschen verewigen, der noch an seinem Sterbetage ein völlig Unbekannter gewesen war …

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Notiz aus der Deutschen Wacht (Cilli) vom 14. April 1913.
Das „Grazer Tagblatt“ erwähnt in seinem Vorbericht zu dieser Veranstaltung den Plan, einen „Ernst Goll-Brunnen“ in Windischgraz zu errichten; er wurde nie realisiert.

Die späte Liebe flackert uns in einem Zwielicht von ironischer Schärfe und versöhnender Milde. Doch keinesfalls sollte man vergessen, auf das Denkmal die Worte zu setzen, die Ernst Golls Grabschrift ausgeblutet hat:

„Die Menschen haben mich zu sehr gequält,
Und allzu schwer empfand ich meine Bürde.
Da trat ich frierend aus dem Tor der Welt
Und wünschte nichts, als daß mir Ruhe würde.

Die ihr an meinem frühen Grabe steht,
Verlöschet sanft die blassen Totenkerzen,
Gebt mir nicht Tränen, gebt mir kein Gebet:
Es führt kein Weg zum meinem kühlen Herzen.

Doch jenem andern, der noch Atem holt,
Bekränzt den Weg mit roten Liebesrosen
Und wertet seine Menschheit nicht nach Gold,
Daß er nicht flüchte zu den Lebenslosen.“

Ein ziemlich dünnes Bändchen Gedichte, von dem Freunde Julius Franz Schütz unter dem wohlerwogenen Sinnspruch "Im bitteren Menschenland" gesammelt und bei Egon Fleischel in Berlin herausgegeben: mehr nicht ist von Ernst Goll übrig geblieben. Es ist wenig und doch genug. Man spricht von einem unergründlichen Gesetz, wonach der Dämon die zu frühem Tode unsichtbar Gezeichneten dränge, rascher als andere zu reifen und mit rätselhafter Hast die Ernte in Sicherheit zu bringen. Hermann Conradi, der Überfruchtbare, und aus ältererer Zeit Hölty, Hauff, Körner, vielleicht auch der große Kleist sind Zeigen aus dem Schattenlande. Ein Schicksalsgenosse des Steiermärkers, der jugendliche Selbstmörder Walter Cale, wurde mit der allgemeinen Klage begraben, daß der Tod die Halme gemäht habe, ehe die Ähren fruchtschwer waren. Glaubt man an einen Willen der Natur, der den Frühling eines jungsterbenden Dichters zu einem Sommer oder Herbst mache, dann wäre auch der andere Glaube logisch: daß jeder Mensch die ihm bei der Geburt verliehene physische und geistige Lebenskraft genau am Tage seines Todes erschöpft habe. Die gegen das besondere Schicksal, gegen Krankheit und Selbstmord geschleuderten Wenn und Aber verlieren ihre Beweiskraft dort, wo Heines Narr auf Antwort wartet. Dagegen können wir immerhin an den Werken der Junggestorbenen mit einem kaum trüglichen Gefühl wahrnehmen, daß ihre zugleich mit dem Leben abgeschlossene Jugend von ihrem Wesen nicht zu trennen ist; daß ihre Persönlichkeiten vom eiligen Tod nicht verkürzt, sondern rein erhalten wurden. Ich meine damit nicht, daß diese Dichter auf die Nachsicht Anspruch erheben, die man der Jugend zubilligt; vielmehr, daß die Jugendsaat ihr voller Lebensanteil war und die Jahre, um die man sie betrogen wähnte, ihrem Schaffen schwerlich neue Werte gebracht haben würden.

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Hermann Kienzl (1865-1928)

Diese tröstliche Empfindung erfüllt mich, wenn ich die von der Morgensonne durchstrahlten, von schweren Abendnebeln umwogten Gedichte des Ernst Goll bedenke, von denen der Herausgeber wohl sagen durfte: „Wer dieser Psyche fühllos gegenübersteht, für den hat jede Schönheit umsonst verblutet.“ Denn was hebt diesen armen kleinen Poeten aus der unübersehbaren Heerschar der Lyriker? Daß er, gerade er eine Jugend hatte, die den reinen, goldigen Wein verschüttete, ehe Hefe sich im Becher ansetzte; daß er den „Königszug der Jugend in die Welt“ am Morgen antrat, und am frühen Abend, ein blasses Haupt neigend, den Traum und das Gebet seiner Jugend erfüllt sah. Ja, erfüllt trotz der Verzweiflungen, die den Dichter in den Tod trieben. Er hatte gerufen: „O, wartet nicht, bis euer Kranz verblüht!“ Er hatte vom Schicksal gefordert: „Laß mich nicht müde sein und mich bescheiden!“ - und eines seiner letzten Gedichte: „Der Wanderer und der Tod“ klang aus, als hätte eine höhere Weisheit sein Auge sehend gemacht:

Sollen wir weinen wenn einem erfüllt,
Wofür er kämpfte mit Speer und Schild?“

Wahrhaft wie er war, jung wie er starb, ist Ernst Goll der wahre Dichter seiner Jugend und eine Individualität. Diese Jugend war voll von Kummer und Jauchzen, voll von seliger Brunst und bleichem Verzagen, ein Kämpfen, Leiden und Scheiden, aber unverfälscht in jedem Hauche. Das überwältigt den Nachfühlenden. Das würde sich uns aufdrängen, wenn wir auch nichts vom Schicksal des Jünglings wüßten, der der kalten Welt entfloh, um die vom Schmerz betränten Rosen seiner Schönheit nicht geknickt zusehen.
Ernst Goll ist kein „Neutöner“. Aber jeder Ton ist sein eigen. So stark ist sein Gefühl, daß er auch fremde Klänge (die von Storm und weniger Bekannten kommen) gleichsam in sein Blut aufnimmt. Seine Verse, hie und da von einem unreinen Reim getrübt, haben den weichen Fluß Chopinscher Musik. Doch weichlich sind sie nicht, und auch zum sonnigen Glücke fehlt es ihm nicht an Kraft. „In herbstlicher Fülle“ gährt seine Seele wie junger Wein:

„Ich will die Kleider von den Gliedern streifen,
Nackt über die beschwerten Hänge geh'n
Und nach der dunkelsten der Trauben greifen,
Die aus dem Gold- und roten Laube seh'n.

Dann bin ich eins mit jener Hügelweite,
Die tiefste Blüte aus dem Erntekranz
Und bete, daß dein Fuß sie überschreite
In dieser Nacht voll Duft und Mondenglanz.“

Das Mädchen seiner Liebe ist das Schicksal seiner Lieder. Einem flüchtigen Schwelgen folgt lange Bangigkeit. „Wir sind zwei veirrte Gefährten im großen Walde der Welt“, beginnt ein Gedicht, und es schließt:

„Wir betteln an fremdem Herde
Armselig und kummerbleich:
Wir sind auf der traurigen Erde
Verkünder vom himmlischen Reich.“

Es folgen Verse, die von Friedlosigkeit gepeitscht sind und angstvoll um die schwindende Liebe zittern. Dann ein Gedicht, das wie schwere Anklage hallt:

„So habt ihr mit dem kalten Angesicht
Schon wieder unsern Himmelsbau zerstört,
Der euch im Wege stand. Fühlt ihr denn nicht,
Daß diese Liebe nimmer uns gehört?

Denn diese Liebe ist der Werdeschrei
Schon einer künftigen, verhüllten Welt.
An euren Gärten geh'n wir stumm vorbei
Und wissen nicht, wer uns die Hände hält.

Fühlt ihr denn nicht, daß wir umhergezerrt
Von blindem Willen wie zwei Kähne sind,
Nur einem, einem Ziele zugekehrt
In Glück und Not: dem ungebor'nen Kind!“

Schräger und länger werden die Schatten. Todesahnungen bereiten den Willen zum Sterben vor.

„Zwei Vöglein wollten in süßeres Land,
Sie flogen und flogen unverwandt.

Zwei Vöglein wurden die Flügel schwer,
Ertranken beide im wilden Meer.“

Ernst Goll ging den letzten Weg allein. Von seinem Hügel weht ein Aeolsharfenklang.

P. S.:
Die Vorgeschichte dieser Würdigung – sie reicht zurück in das Jahr 1908 – findet sich in dem Buch
"Ernst Goll – Eine Nachlese" ausführlich dokumentiert.