Februar 2015

Ernst Goll in der Marburger Zeitung

Eine Entdeckung

von Christian Teissl

Vor Jahresfrist widmete ich in der Kulturzeitschrift "steirische berichte" dem aus Graz gebürtigen Komponisten Joseph Marx (1882-1964) aus Anlass der 50. Wiederkehr seines Todestages ein kleines Gedenkblatt:

Im Jungen Graz von anno 1910 war Joseph Marx ein künstlerisches Zentralgestirn, umkreist von zahlreichen Trabanten. Nicht nur Ernst Goll träumte jahrelang davon, Marx würde eines seiner Gedichte vertonen, auch Bruno Ertler und der um etliche Jahre ältere Robert Michel, der damals vorübergehend in Graz lebte, bemühten sich unabhängig voneinander, Marx neue, unverbrauchte Opernstoffe schmackhaft zu machen. An bereitwilligen Librettisten also hatte der junge, gefeierte Liedkomponist keinen Mangel; dennoch ist kein Opernkomponist aus ihm geworden, weder damals noch in späteren Jahren. Er blieb zeitlebens Lyriker, Kammermusiker und Symphoniker.

Goll hat Marxens beginnenden Ruhm miterlebt, den kometenhaften Aufstieg des nur fünf Jahre Älteren wohl mit einiger Euphorie mitverfolgt. Darauf deutet nicht allein sein Gedicht "Namenstagsgruß für Pepo Marx" hin und nicht nur eine Karte an den "lieben Doktor" vom April 1912 – ein rares Korrespondenzstück, abgebildet in meiner Gollausgabe auf S. 19 –, sondern auch die Anfangszeilen eines umfangreichen Prosamanuskripts, das sich in Golls Nachlass an der Steiermärkischen Landesbibliothek erhalten hat: "Wir schrieben den 17. Jänner. Ein doppelt denkwürdiger Tag. Im kleinen Kammermusiksaale kränzten sie Pepo Marx' junge Stirn mit erstem Lorbeer."
Als ich vor wenigen Wochen das Gedenkblatt für Marx verfasste, konnte ich diese Zeilen zitieren und dabei noch guten Gewissens von einem "unveröffentlichten Feuilleton" sprechen; umso größer war dann meine Überraschung … Doch immer der Reihe nach:

Bild "Ernst von Dombrowski.jpg"
Ernst Ritter von Dombrowski, Fotograf unbekannt
Bei dem vermeintlich "unveröffentlichten Feuilleton" handelt es sich um einen zwölf Manuskriptseiten langen Essay zur Uraufführung des Stücks "Narrenliebe" am 17. Jänner 1910 im Grazer Stadttheater (dem heutigen Opernhaus). Verfasser dieses Stücks war Ernst Ritter von Dombrowski (1862-1917), ein aus dem Böhmischen gebürtiger Jagdschriftsteller, der seinen frühen Lebensabend in Graz zubrachte, hier einen Kreis von jugendlichen Schwärmern um sich scharte und sich auf die Dramatik warf. Seine radikal deutschnationale Gesinnung legte er fortan nicht nur in Streitschriften wie "Auf dem Kriegspfad gegen Rom" nieder, er verlieh ihr auch in einer Reihe von Schauspielen Ausdruck, die zum größten Teil in Graz zur Aufführung gelangten. Sein letztes Stück, "Ehelegende", wurde gar vom Wiener Burgtheater angenommen und dort im Februar 1918, wenige Wochen nach seinem Tod, uraufgeführt. Im Repertoire freilich konnte es sich ebenso wenig halten wie Dombrowskis frühere Dramen in Prosa und Vers. Fällt heute sein Name, denkt jedermann sofort an seinen Sohn, den gleichnamigen Holzschneider mit literarischer Ambition, den  Rosegger-Illustrator und Träger des berühmt-berüchtigten Anti-Roseggerpreises von anno 1971. Der frühverstorbene, seiner Zeit ganz und gar verhaftete Senior ist heute vollkommen vergessen; am Vorabend des Ersten Weltkriegs aber war er im Theaterleben der Murmetropole eine fixe Größe. "Narrenliebe" ist nur eine von mehreren dramatischen Dichtungen aus seiner Feder; andere heißen "Frühlingsopfer", "Lena", "Waldbrand" und "Mona Lisa". Zudem leitete er etliche Jahre lang das Theaterreferat des "Grazer Tagblatts".

Lange habe ich überlegt, Golls Essay über die "Narrenliebe" wie auch seine drei anderen Texte zum Theater in meine Ausgabe von 2012 aufzunehmen, schlussendlich aber davon Abstand genommen (siehe Datierung geglückt). Aller Voraussicht nach werden sie, zusammen mit anderen Paralipomena des Dichters, heuer noch in einer Nachlese erscheinen, die ich für die Schriftenreihe der Steiermärkischen Landesbibliothek vorbereite.
Auf der Suche nach Abbildungen für diese Publikation stieß ich jüngst im Grazer Franz Nabl-Institut auf ein Exemplar der mir einzigen bekannten Buchausgabe von Dombrowskis Stück (Rubin-Verlag, München 1909), dem – eine Besonderheit!  – ein Pressespiegel beigelegt war.

Bild "Narrenliebe_Pressespiegel_1.jpg"

Ich witterte brauchbares Bildmaterial für die geplante Goll-Nachlese, und borgte mir das Buch aus. Zuhause dann betrachtete ich das beigelegte Blatt genauer, ging die Pressestimmen durch, die da aufgelistet sind – und siehe da:  

Bild "Narrenliebe_Pressespiegel_2.jpg"

Glücklicherweise ist die "Marburger Zeitung" mittlerweile bis zum Jahrgang 1918 im Rahmen des großen und großartigen ANNO-Projekts der Österreichischen Nationalbibliothek digital aufbereitet und online zugänglich. Die Ausgabe vom 29. Jänner 1910 war also im Handumdrehen aufgetan. Dort steht es schwarz auf weiß auf Seite 7, ungekürzt und ohne Abstriche: Zur Uraufführung von E. v. Dombrowskis "Narrenliebe" in Graz am 17. Jänner von Ernst Goll. Ein Korrespondentenbericht aus Graz, zwei Spalten breit.
Weitere Grazer Theaterberichte Ernst Golls in der Marburger Zeitung lassen sich allerdings nicht ermitteln. Seine Eloge auf Dombrowski blieb offenbar ein einmaliges Gastspiel, führte zu keiner dauernden Mitarbeit an diesem Blatt (das im Unterschied zur Grazer "Tagespost" auch keine Gedichte abdruckte und auf Literatur überhaupt wenig Wert legte).

Bild "Goll als Theaterkritiker in der Marburger Zeitung_kl.jpg"
ANNO-Datenbank, Österreichische Nationalbibliothek

Der momentanen Quellenlage zufolge darf man diesen Text als Golls erste Veröffentlichung ansehen: Demnach debütierte er nicht als Lyriker, sondern als Theaterkritiker, als Feuilletonist.