Dezember 2014

Ernst Goll als Märchenerzähler

von Christian Teissl

"Er schreibt, glaube ich, auch Prosa."
Diese vage Angabe über Ernst Goll stammt vom Mai 1910 und findet sich in einem Brief des Dichteroffiziers Robert Michel an Ludwig von Ficker, den Herausgeber des Innsbrucker "Brenner" und Förderer Trakls. Der knapp vier Seiten lange Brief wirkt in manchen Passagen wie der Bericht eines literarischen Scouts, der im Jungen Graz von anno dazumal Umschau hält nach neuen, viel versprechenden Talenten (vgl. dazu die Lebenschronik in meiner Ausgabe, S. 18).
Robert Michel lag mit seiner Vermutung nicht falsch: Goll schrieb in der Tat nicht nur Gedichte, er versuchte sich auch als Prosaist; in welchem Ausmaß und mit welcher Intensität, lässt sich heute allerdings nicht mehr sagen. In seinem literarischen Nachlass finden sich nur spärliche Fragmente im Umfang von einigen wenigen Seiten, daneben aber immerhin auch eine Handvoll lückenloser, fertig ausgeführter Prosaarbeiten: vier Feuilletons zum Grazer Theaterleben und ein Kunstmärchen.
Alle vorhandenen Prosafragmente sind in meiner Ausgabe erstmals veröffentlicht (S. 231-238), die abgeschlossenen Prosaversuche hingegen habe ich nach längerem Nachdenken ausgespart: Bei den Feuilletons zum Theater (siehe Menüpunkt Datierung geglückt) war es vor allem die Tatsache, dass sie ohne Ausnahme anlassgebundene Arbeiten sind, Texte zwar von hohem biographischem und kulturgeschichtlichem Aussagewert, doch ohne jeden poetischen Anspruch, der mich dazu bewogen hat, sie nicht in die Werkausgabe aufzunehmen, sondern sie zu einem späteren Zeitpunkt, im Rahmen einer gründlich kommentierten Nachlese, gesondert zu edieren.
Beim Kunstmärchen wiederum ließ ich mich, ich gestehe es offen, von übertriebener Vorsicht leiten: Es kommt darin nämlich eine Szene vor, in der ein Hanswurst auf offener Kasperlbühne einen "Neger" zum Gaudium des Publikums verprügelt. In der Meinung, ein solcher Text könne heutzutage seinem Verfasser nur schaden, könne einer Goll-Renaissance nur hinderlich sein, ließ ich ihn stillschweigend unberücksichtigt – was ich mittlerweile bereue, handelt es sich hierbei doch um den einzigen uns überlieferten Erzählversuch, den Goll, wenn auch nur in der Rohform, zu Ende geführt hat.

Die Puppentheaterszene in diesem Text ist mitnichten als Beleg für den Rassismus des Autors zu werten. Der vom Kasperl verprügelte "Neger" ist, wie mir Frau Prof. Beatrix Müller-Kampel, Germanistin an der Universität Graz und ausgewiesene Expertin auf diesem Gebiet (vg. dazu ihre Studie "Hanswurst, Bernardon, Kasperl" von 2003 und ihr Internetportal http://lithes.uni-graz.at/home.html) nach Lektüre des Textes mitgeteilt hat, ein feststehender Topos in der Policinelltradition des 19. Jahrunderts. Goll hat hier also nichts erfunden, sondern lediglich beschrieben, was er vermutlich selbst als Kind im Kasperltheater gesehen hat.

Im Folgenden nun eine komplette Transliteration seines Märchens, dem ich den Titel "Das Lachen" gegeben habe. Textzeuge sind zwei lose Blätter, die sich in einer Sammlung von Zettelwerk unter der Signatur Hs. 459 im NL Goll an der Steiermärkischen Landesbibliothek befinden.
Bemerkenswerterweise ist dieser Text auf zwei unterschiedlichen Schreibunterlagen entstanden: Begonnen wurde die Bleistiftniederschrift auf einem unlinierten Blatt im Format DIN A 5, fortgesetzt auf einem Bogen linierten Papiers im selben Format, was auf die Schriftgröße allerdings keine Auswirkung hatte. Dieser Bogen wurde offenbar aus einem Schreib- oder Schulheft herausgerissen (Einrissspuren sind vorhanden); drei Seiten davon sind beschrieben, auf der vierten, leer gebliebenen, finden sich einige Bleistiftkritzeleien, Ansätze zu kleinen Portraitskizzen.
Insgesamt umfasst die Niederschrift dieses Textes fünf Seiten. Die Seitenumbrüche sind in der vorliegenden Transliteration durch das Zeichen // angezeigt, die originalen Zeilenumbrüche habe ich beibehalten. Das Schriftbild ähnelt in auffallender Weise dem der Rohschrift von Golls Feuilleton über Hermann Kienzls Vortrag im Dezember 1908. Hier wie dort finden sich noch nicht die strengen, dicht gedrängten Schriftzüge, in denen uns Golls lyrische Hauptwerke überliefert sind, sondern eine Vorstufe davon: Die Konturen sind noch weicher und welliger, zwischen Wort und Wort, Zeile und Zeile werden, jedenfalls in der Reinschrift, noch größere Abstände gelassen.
Die Entwicklung von Golls Schrift als Erwachsener, von den ersten Grazer Studienjahren bis zu den letzten, poetisch so ergiebigen zweieinhalb Lebensjahren, lässt sich recht gut an einem markanten Detail erkennen: Das große "E" sieht in seiner Handschrift spätestens ab Frühjahr 1910 deutlich anders aus als noch in den Reinschriften der Rodelhymne und des Kienzlfeulletons von Jänner bzw. Dezember 1908:
Bild "Golls E.jpg"
links: aus einer Handschrift 1908; links: aus Golls Signatur 1911


Im vorliegenden Prosatext (wie übrigens auch noch in den ersten Gedichten der Reifezeit wie "Andacht" und "Ahasver"), entspricht die Schreibung des großen E weitgehend jener des Jahres 1908, es dürfte sich hier also wohl um eine Arbeit des Zwanzig- bis Zweiundzwanzigjährigen handeln, der noch nicht im "Bitteren Menschenland" angelangt, sondern erst unterwegs dorthin war.

Bild "Goll Maerchen - Seite 2.jpg"
Die zweite Seite aus dem Manuskript;
Quelle, Steiermärkische Landesbibliothek, Graz.
Die in Tintenschrift an den unteren Seitenrand geschriebenen Worte bzw.
Wortfetzen beziehen sich offenbar nicht auf den Text.


DAS LACHEN
Ein Märchen von Ernst Goll

Es war einmal ein junger König, dem war bitterstes
Leid geschehen. Er ging wie ein Toter durch das Leben und
seine Züge konnte nie mehr ein Lächeln erhellen.
Das Wohl seines Landes, lag dem er früher ein sorglicher
Fürst gewesen, lag ihm nun nicht mehr am Herzen,
seit dieses Herz selber statt Wohl nur Wehe kannte.
Da nahm ihn eines den kranken König eines Tages
sein treuer Kanzler an die Hand und wanderte mit
ihm auf hundert Wegen durch das Reich, damit er das
Lachen wieder erlerne.
Und wie die beiden nun einmal eine breite,
staubige Straße schritten, gelangten sie an ein
Wirtshäuslein, vor dem eine mächtige Linde stand.
Unter der Linde aber <saß> vor einem mächtigen
Humpen Weines ein biederes Bäuerlein; das
hatte den Kopf in die Hände gestützt und schlummerte,
weil die Hitze so drückend war und weil es schon
zwei solcher Humpen geleert hatte. Und wie es
nun so ahnungslos schnarchte und schlief, kam ein
Weiblein um die Ecke gelaufen – das war des Bäuer=
leins eheliche Frau, denn kaum ward es des Schlafen=
den gewahr, stand es auch schon an seiner Seite,
hob ihn am Rockkragen mit einem Stück in die
Höhe und schob den [E]rschreckten unter lautem
Geschrei und Gezeter vom Budenplatze weg und die
staubige Straße entlang. Demütig wackelte das
Bäuerlein voran und wenn es wieder einknicken
wollte, hieb das Weiblein mit einem großen, großen
roten Schirm so eindringlich in seine Rippen, daß es
hurtig weiter trabte. //
Es war ein köstliches Bild, das heimkehrende Ehepaar[,]
und Wirt und Wirtin, Gäste und Kanzler lachten so
herzlich, daß ihnen die hellen Tränen in den Augen standen,
der König aber zahlte des Entführten Zeche und
kein Lächeln spi konnte um seine Lippen spielen.  –  
Nach langem Wandern gelangten Kanzler und
König in eine große Stadt, in der man gerade <eben >
Jahrmarkt feierte. Mitten im Gewühl hatte ein
unter Buden und Zelten hatte ein Gaukler fein
aus fremdem Land sein Theater errichtet[.]
Und weil gerade eine Menge <von Leuten> neugierig viele
Leute neugierig um die Buden standen, ließ der
Gaukler seine Puppen spielen. Ein Hanswurst
<erschien> im Bühnenrahmen, verbeugte sich bis zur Erde
und bezeugte seinen Mut schnitt die köstlichsten [Grimassen],
die wohl Mut bezeugten, weil er beständig dazu
ein[en] riesige[n] Klöppel schwang. – Und sieh, da
nahte auch schon der Feind – ein riesiger Neger,
doppelt <so groß> als Hanswurst samt seinem Klöppel.
Nun entbrannte ein grauser Kampf, aber
Hanswurst hieb so unermüdlich mit dem Klöppel
ein, daß der Neger bald tot und steif zur Erde
fiel. Aber kaum war dieser Feind <besiegt>, erschien
von der anderen Seite ein ungeheures Krokodil,
daß [sic!] gefräßig nach dem Helden seinen Rachen
sperrte. Aber Hanswurst blieb wieder Sieger –//
ein wuchtiger Schlag und das Untier schien getötet.
Stolz im Gefühle des Siegs, setzte sich Hanswurst auf den
Kopf des Erschlagenen da plötzlich fuhr das Ungeheuer
auf, Hanswurst kollerte zur Erde – Wieder begann
von neuem begann der Kampf und dauerte nun
ohne Ende fort, da abwechselnd Neger und Krokodil
aus scheinbarem Tode erwachten.  
Es war ergötzlich anzusehen, wie Hanswurst unermü
dlich stritt, dabei die tollsten Grimassen schnitt und
wie die Feinde ohne Unterlaß den armen Helden
quälten – alles lachte im Kreise von frohen
Kindern bis zu müden Greisen. Der König aber
legte all sein Gold in den zinnernen Teller,
den des Gaukler[s] schwarzäugige Kleine in den
braunen Händen hielt und seine Züge blieben
ernst und ehern wie zuvor.
Viele, viele Wochen waren König und Kanzler
schon gewandert, aber lag noch nie lag ein
Lächeln auf dem Antlitz des Königs – und es gab
so viel Seltenes und Ergötzliches zu schauen
auf dem weiten, weiten Weg. Und manchmal //
in stillen Nächten, begann der <treue> Kanzler <ganz leise> zu zweifeln
an seiner Mühe.
Da geschah es, daß die beiden in das kleinste Dorf
des Reiches gelangten. Es war eine weiche, herr=
liche Sommernacht und das Mondlicht lag so
lind und silbern über der schlummernden Welt.
Schweigend schritten König und Kanzler – in blühen=
den Gärten entlang, über denen ein Hauch lag
von Rosen und Jasmin. Da klang – ganz nah –
ersticktes Flüstern. Vorsichtig traten die späten
Wanderer
aus weinumsponnener Laube – er=
sticktes Flüstern. Vorsichtig spähten die Wanderer
durch das Geäst.
Eng aneinandergeschmiegt Da saß eng anein=
andergeschmiegt ein junges Paar in dunkeler
Ecke – denn nur ein Streifen Mondlicht schien
durchs Geäst und der lag auf des Mägdleins
Haar, daß es so weiß und weich wie gesponnenes
Silber schien[.] Das Mägdlein hatte des Knaben
Haupt in die blassen Hände genommen und
auf ihrer Stimme lag es wie zitternder Glocken=//
ton, als sie leise ganz leise sprach zu sprechen
begann: „Du Liebster, ich will dir treu sein
–alle Tage – bis mich der Tod in die Arme
faßt.[“]  Der Knabe aber war zu des Mägdleins <ihren>
Füßen gesunken, zog ihre Hände an seinen [sic!]
Lippen und sah zu ihr auf, mit einem Blick [,]
in dem ein Himmel lag von gläubigem
Vertrauen: Mein Liebling, ich glaube an
dich!" Danke, danke mein Liebling.
"Mein Liebling,
ich glaube an dich!" –
Das alles hatten König und Kanzler geseh'n.
Da geschah etwas Seltsames und auf dem
Antlitz des Kanzlers malten sich Entsetzen
und Schreck, denn er glaubte nicht anders, als
sein Herr sei gänzlich von Sinnen gekommen.
Da stand der König an die Laube gelehnt und
hielt sich die Hände an die Seiten und lachte,
lachte, lachte. Und als das Pärchen längst
erschreckt durch den Garten geflohen war, lachte
er noch immer.