Mai 2014

Ernst Golls Weg an die Öffentlichkeit

von Christian Teissl

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gehörte Robert Michel (1876-1957), bekannt vor allem für seine bosnischen Novellen, zu jenen "neuen Stimmen", die im literarischen Leben Österreichs etwas galten. Als Protegé Hugo von Hofmannsthals stand er, wie die meisten Dichter aus dessen Kreis, bei S. Fischer unter Vertrag, sein Brot aber verdiente er als Lehrer in den Kaderschmieden des Militärs. Diese Profession war es auch, die ihn nach Graz brachte, wo er im Schuljahr 1909/10 an der Korpsschule unterrichtete. Michels Grazer Aufenthalt blieb Episode, führte zu keiner dauerhaften Bindung des Dichteroffiziers an die steirische Metropole. Die lyrische Hommage, die Ernst Goll damals an ihn adressiert hat, ist bezeichnenderweise ein Abschiedsgedicht (vgl. dazu meine Ausgabe, S. 108f. und S. 269f.).
Wieder nach Wien zurückgekehrt, verfasste Michel ein kleines Feuilleton mit dem Titel „Erinnerungen an Graz“. Darin bekräftigt er den sprichwörtlich gewordenen Ruf der Stadt als Pensionopolis der alten, morschen Monarchie, nicht ohne ihn im gleichen Atem entscheidend zu relativieren:
"In der Tat", schreibt Michel, "scheint Graz die Stadt der alten Menschen zu sein. Wenn man aber längere Zeit dort lebt, kommt man allmählich darauf, daß man Graz ebenso gut die Stadt der Jugend nennen könnte. Denn in keiner andern Stadt greift die Jugend so bestimmt in das Leben ein wie in in Graz. In den meisten großen Städten ringt sich die aufstrebende Jugend nur mühsam durch und ihre Stimmen werden überhört; in Graz aber findet jeder Zwanzigjährige aufmerksame Zuhörer, sobald er nur etwas zu sagen hat.
Der Widerstreit zwischen Jugend und Alter spiegelt sich in verschiedenen Erscheinungen deutlich wider. Die Grazer Zeitungen müssen für Pensionisten fürsorglich so redigiert werden, daß nur mit Zeitaufwand das zu finden ist, was einer gerade lesen will. Das verlängert auf behagliche Art das Zeitungsstündchen der Alten; und vielleicht merken sie es gar nicht, daß ihnen aus den Zeilen oft eine schaffensfrohe Jugend entgegenspricht."

Das gilt in besonderem Maße für die bürgerlich-liberale "Tagespost". So alteingesessen und altehrwürdig sie auch war, in den kulturellen Auf- und Umbruchsjahren um 1910 stand sie der Jugend sperrangelweit offen. Als einzige von den damals vier Grazer Tageszeitungen druckte sie in ihren Sonntagsausgaben regelmäßig Gedichte ab, allerlei Gelegenheitsverse von Dilettantinnen und Dilettanten, aber auch anspruchsvolle Talentproben einer neuen heimischen Dichtergeneration, von Aliberti bis Zerzer. Nicht weithin sichtbar standen sie in der Zeitungsspalte, sondern gut versteckt zwischen Buchbesprechungen und Kurzberichten aus Theater und Konzertsaal. Für heutige Begriffe mag diese Art der Präsentation lieblos wirken, die heimischen Nachwuchsautoren von anno dazumal aber schätzten sich glücklich, über eine derart vielbeachtete Plattform zu verfügen und sich im lyrischen Sonntagsstaat die ersten Lorbeeren erwerben zu können.
Julius Franz Schütz, Golls Bruder in Apoll und späterer Nachlassverwalter, dem wir die Gestaltung und erste Herausgabe des "Bitteren Menschenlandes" verdanken, berichtet in einer Mischung aus Staunen und Stolz seinem Tagebuch am 15. Dezember 1909:
"Heute vormittag reichte mir Herr Legat fast über eine Tramway hinweg die Hand und brüllte freudig: 'Ein Mann, ein Wort – Gratuliere Ihnen!' Mein Gedicht steht wirklich in der Tagespost und hat allem Anschein nach auch eingeschlagen."
Etwas mehr als ein Jahr später, am  8. Jänner 1911, brachte das Blatt von Ernst Goll nicht nur ein, sondern gleich fünf Gedichte:

Bild "FuenfGedichte_Tagespost-08-Jan-1911_sm.jpg"

Das dritte Gedicht trägt nur hier, nur in diesem Erstdruck die Überschrift „Gebet“; in Golls Manuskript und in allen bisherigen Ausgaben – so auch in meiner, auf S. 104 – heißt es "Bitte".
Vom letzten der hier präsentierten Gedichte besitzen wir, für Goll eine Seltenheit, drei verschiedene Textzeugen: T1) in Golls Zettelwerk eine mit 13. Dezember 1910 datierte Reinschrift, "Ich war einmal ..." überschrieben;
T2) in Golls Grazer Schreibbuch eine offenbar nur wenig später angefertigte zweite Reinschrift mit dem Titel „Ich war dereinst“;
und darauf basierend T3) ein undatiertes Typoskript, in dem dieser Titel vom Dichter eigenhändig durchgestrichen und durch den neuen Namen "Mädchenlied" ersetzt ist.
Der vorliegende Erstdruck entspricht weitestgehend dem Textzeugen T1. Im Rahmen meiner Edition habe ich ihn zwar für den editorischen Apparat ausgewertet, ihn aber der Leserschaft nicht gesondert zugänglich gemacht. Durch seinen nun aufgefundenen Abdruck in der "Tagespost" erhält er einen anderen Wert und ein anderes Gewicht, weshalb eine verbesserte Neuauflage meiner Edition beide Versionen schon im Textteil auf S. 132 präsentieren wird, als erste (T1) und zweite Fassung (T2+3) ein- und desselben Gedichts.

Durchforstet man die Sonntagsausgaben der Vorkriegs-„Tagespost“, so begegnet man Gedichten teils prominenter, teils völlig obskurer Autoren, wobei pro Sonntag in der Regel nur ein einzelnes Gedicht oder allenfalls ein lyrisches Diptychon ins Blatt gesetzt wurde; eine ganze Handvoll Gedichte wie hier am 8. Jänner 1911 ist ein Ausnahmefall.
Auf welche Weise und aufgrund wessen Fürsprache dieser markante Zeitungsauftritt Ernst Golls zustandegekommen sein mag, lässt sich mangels erhalten gebliebener Korrepsondenz heute nicht mehr rekonstruieren. Ich vermute, dass sie eine unmittelbare Folge seiner Mitwirkung an der damals gerade vom Stapel gelaufenen, ungemein ambitionierten Grazer Kulturzeitschrift "Der Herold" war: Bereits in der zweiten von insgesamt 17 Ausgaben, Mitte Dezember 1910, findet sich sein Gedicht "Andacht" (vgl. dazu die Lebenschronik in meiner Goll-Ausgabe, S. 20).
Der Chefredakteur der „Tagespost“, Ernst Décsey, selbst ein Literat von hohem Rang, scheint diesem Zeitschriftenprojekt der jungen Generation von Anfang an fördernd zur Seite gestanden zu sein; schließlich hat er für das Pilotheft eine Kurzgeschichte – und damit auch seinen prominenten Namen –  zur Verfügung gestellt, und eine Auswahl seiner „Tagespost“-Feuilletons erschien im Frühjahr 1911 unter dem Titel „Zigarettenrauch“ als erste und einzige Buchpublikation des Herold-Verlages, der wie die Zeitschrift noch im selben Jahr wieder eingestellt wurde.
Im „Herold“, der schon bald nach seiner Gründung der Jungen Grazer Künstlerszene entglitt und mehr und mehr zu einer Spielwiese junger Wiener Autoren rund um Anton Wildgans wurde, fand Golls Gastspiel keinerlei Fortsetzung, doch sein Weg an die Öffentlichkeit war unwiderruflich geebnet: In der „Tagespost“ erschienen zu seinen Lebzeiten noch vier weitere Gedichte; am Sonntag, den 13. August 1911, das folgende Triptychon:

Bild "DreiGedichte_Tagespost-13-Aug-1911_sm.jpg"

"Schlummerlied, auf der Wiese zu singen" stammt vom 27. Mai 1911. Lautet hier der Auftakt des Gedichts in leicht mundartlicher Färbung "Sonne ist schon schlafen gangen", so steht in allen anderen Textzeugen stattdessen:
"Sonne ist zur Ruh' gegangen".

"Linde Hoffnung" ist unter dem Titel "Einmal" und dem Datum 10. Juni 1911 überliefert; auch hier weicht der Wortlaut des ersten Verses signifikant von der Manuskript- wie von der Typoskriptfassung ab, wo das Gedicht jeweils mit den Worten "Haben uns im Grund der Seele lieb" einsetzt.

"Das schöne Bild" ist ebenfalls im Juni 1911 entstanden. Meine Ausgabe bietet in ihrem Textteil (S. 144) zwei Versionen: eine nach der datierten Handschrift des Dichters, eine andere nach einer undatierten Typoskriptabschrift im Nachlass Schütz, die für alle bisherigen Buchausgaben maßgeblich war. Der vorliegende Zeitungsdruck entspricht im Wesentlichen der ersten, handschriftlichen Fassung, allerdings mit einer kleinen Ausnahme: Der dritte Vers von Strophe zwei lautet dort: "Legen nieder es im Grund der Seele."

Am Sonntag, dem 19. November desselben Jahres, folgte schließlich das Gedicht Traurige Liebe. Dies war Golls letzter Beitrag für die damals führende Grazer Tageszeitung – vermutlich seine letzte Veröffentlichung überhaupt. Zwar fand im Februar 1912 im Grazer Kammermusiksaal eine viel beachtete, positiv aufgenommene öffentliche Vorlesung statt, die Goll gemeinsam mit Bruno Ertler, seinem nachmals vor allem als Novellisten und Dramatiker bekannt gewordenen Dichterfreund absvolvierte, doch zu einem weiteren Abdruck eines seiner Gedichte scheint es in seinen letzten Lebensmonaten nicht mehr gekommen zu sein.