Sommer 2014

"Im Rittersaal, kommenden Montag ..."

Eine Datierungsfrage, endlich gelöst

von Christian Teissl

Von Golls Begeisterung für das Theater zeugen nicht nur Berichte seiner Freunde, sondern auch vier kurze Prosamanuskripte aus seinem Nachlass in der Steiermärkischen Landesbibliothek.
Bei dreien von ihnen handelt es sich um handfeste Theaterkritiken, wie man sie nicht für die eigene Schublade schreibt, sondern mit Blick auf das Publikum, nicht aus reinem Vergnügen, sondern in der Hoffnung, sie im Feuilleton einer Zeitung unterzubringen: Tatsächlich war Goll – das geht aus einem verschollenen, im Exzerpt Hubert Fussys uns überlieferten Brief vom 17. März 1910 an Elsa Hofmann in Windischgraz deutlich hervor – mit 23 Jahren fest entschlossen, in den Dienst einer Zeitung zu treten. Damals hatte er offenbar Aussicht, das Theaterreferat des Grazer Tagblatts von seinem väterlichen Freund Ernst von Dombrowski vorübergehend zu übernehmen. Dieses Engagement aber kam, aus welchen Gründen immer, nicht zustande: Dombrowski blieb auf seinem Posten und Golls Hoffnung auf eine wenigstens vorübergehende Anstellung schwand dahin. Solange sie aufrecht war, scheint er einige Fingerübungen als Kritiker unternommen zu haben, Etüden im Kritisieren, von denen sich immerhin drei erhalten haben.
Bei diesen Manuskripten handelt es sich offenkundig um Erstniederschriften; keines ist datiert, geschweige denn signiert; an ihrer Authentizität kann indes kein Zweifel bestehen, auch ihr Entstehungsdatum war anhand der Theaterzettelsammlung der Steiermärkischen Landesbibliothek rasch ermittelt: Inszenierungen der Grazer städtischen Bühnen aus dem Zeitraum zwischen Jänner und März 1910 sind es, von denen der Dichter hier spricht, ausführlich und überschwänglich in einem Fall, in den beiden anderen sachlich-nüchtern bis ironisch-ablehnend. (vgl. dazu die Lebenschronik in meiner Goll-Ausgabe, S. 17)  

Ganz anders verhält es sich mit dem vierten Text Ernst Golls zum Theater; anlassgebunden auch er, ein Stück Gelegenheitsprosa auch er, wie bereits sein Titel, "Zum Vortrage Hermann Kienzls", signalisiert. Über sein Entstehungsdatum aber ließ sich zunächst lediglich spekulieren; die beiden Textzeugen, die im Nachlass des Dichters erhalten sind, geben uns darüber keinerlei Aufschluss: Die Erstniederschrift, ein Bleistiftmanuskript mit zahlreichen eigenhändigen Streichungen und Korrekturen, trägt ebenso wenig ein Datum wie die Reinschrift, ein fast kalligraphisch anmutendes Manuskript.

Bild "Urschrift Kienzlrede.jpg"

Bild "Goll - Kienzl - Anfang der Reinschrift.jpg"

Die Anfangszeilen der Erstniederschrift und der Reinschrift von Golls Feuilleton "Zum Vortrage Hermann Kienzls"
(Quelle: Steiermärkische Landesbibliothek, Graz)

Abermals ist hier der verstorbene steirische Germanist Hubert Fussy dankbar zu erwähnen. Er war es, der den Text im Zuge seiner Goll-Recherchen entdeckt und als erster publik gemacht hat, in seiner Studie Ernst Golls Begegnungen mit Dichtung und Musik seiner Zeitgenossen von 1979. Die Datierungsfrage ließ Fussy allerdings offen; sein ganzes Augenmerk galt der Aussagekraft dieser formal höchst eigentümlichen Prosa, die er als "Dokument für die große Zeit des Grazer Theaters" würdigte, als das Zeugnis nicht nur eines begeisterten Theatergängers, sondern auch eines begeisterten Lesers der Feuilletons von Hermann Kienzl, der 1905, just im selben Jahr, als Goll von Marburg a. d. Drau nach Graz übersiedelte, Graz in Richtung Berlin verließ. Kienzls Abschiedsgeschenk an seine hiesige Lesergemeinde war das Buch Dramen der Gegenwart, eine stattliche Sammlung seiner Grazer Theaterkritiken.

Bild "Kienzl - Dramen der Gegenwart.jpg"
450 Seiten Theaterkritik: "Dramen der Gegenwart, betrachtet und besprochen von Hermann Kienzl"

Nachfolgend eine punktgenaue Transliteration von Golls Reinschrift, einem wahren Schmuckstück innerhalb seines Nachlasses. Die Zeilenumbrüche des Originals sind beibehalten, Seitenumbrüche durch das Zeichen // markiert.

Zum Vortrage Hermann Kienzls
von Ernst Goll

Im Rittersaale wird Montag Hermann Kienzl
reden. Hermann Kienzl, der einmal zu
uns gehörte. Einmal zu uns gehören
durfte. In jener sagenumsponnenen
Zeit, da ein Hauch genial-künstlerischen
Wollens auch über die Grazer Bühnen
wehte. – Unter der Leitung Purschians,
sagen wir's offen. "Einen Steuermann,
der zu den Gestaden der Kunst strebte"
nennt ihn Kienzl. – In der Zeit der
großen Premieren und schauspieleri=
schen Erlebnisse. Die Zeit, da die
großen Schöpfungen Ibsens, Björnsons
und Hauptmanns vor einem fast
geschulten Publikum zum erstenmal
über die Szene gingen; die Zeit der
Sikora und de Grach, die Zeit der
großen Gastspiele, die Baumeister und
Matkowski brachte, Zacconi und die
Medelsky, das Berliner deutsche Thea=
ter-ensemble mit Else Lehmann,
Bassermann und Reinhardt; die Zeit,
da Agnes Sorma die Nora spielte
und Sada Yacco mit ihrer Truppe
die Kunst des fernsten Ostens auf
dem Provinztheater offenbarte.
Die Zeit, in der das Unbegreifliche Ereignis
wurde, daß ein Mann wie Hermann //
Kienzl sich hinsetzen und, lediglich
vom Standpunkt des Grazer Kunstkriti=
kers ausgehend, ein Buch zu schreiben
vermochte, vierhundertundfünfzig Seiten
stark und weit über die Grenzen der
engeren Heimat hinaus gelesen und
gewürdigt: "Das Drama [sic!] der Gegenwart".
Lang, lang ists her ...
Die es erleben durften, werden es
nie vergessen. Die andern mögen es
glauben – oder nicht.
Im Rittersaale wird Montag Hermann
Kienzl reden. Über die großen Premieren
in – Berlin. Über die letzten Schöpfungen
eines Hauptmann, Halbe, Wedekind
und Schnitzler, Strindberg, Gorki und
Oskar Wilde, die heute in aller Munde
sind und den Weg "aus dem Waldland
Weltland ins Waldland" doch nicht
gefunden haben.
Im Rittersaale wird Montag Hermann
Kienzl reden. Hermann Kienzl, dem
die Maße und Werte seiner Zeit längst
schon Krystall geworden sind.
Vielleicht geschieht es, daß über dem
vertrauten Rhythmus der Kienzl-Sprache
den Lauschenden die Erinnerung erwacht
an das goldene Zeitalter der Kunst,
das einmal da war und das wir
doch nicht halten konnten. Und mit
der Erinnerung zugleich die Sehnsucht.
Und mit der Sehnsucht ein ganz, ganz
klein bißchen Wille zur Tat. //
Vielleicht! Vielleicht!
Daß Hermann Kienzls Worte, wie er's
von seinem Grazer Theaterbuche
wollte "einen Hall finden, der einst
geweckt wurde vom Hall und
wiederum Widerhall weckte und
wecken soll ….."


Bild "kienzl_portrait.jpg"
entnommen der Literaturgeschichte von Nagl-Zeilder-Castle

Hermann Kienzl, geboren 1865 als Sohn des Grazer Bürgermeisters Wilhelm Kienzl und jüngerer Bruder des gleichnamigen Komponisten, der durch die Oper "Der Evangelimann" weltberühmt wurde, lernte Hermann Kienzl schon als Kind Berühmtheiten wie Anastius Grün, Leopold von Sacher-Masoch oder Karl Gottfried von Leitner kennen, die im Hause seines Vaters ein- und ausgingen: Nach dem Jus- und Philosophiestudium und einem kurzen Zwischenspiel in Wien trat er 1892 in die Redaktion des Grazer Tagblatts ein. Dort profilierte er sich als Feuilletonist und Theaterkritiker, ehe er 1905 seine Heimatstadt in Richtung Berlin verließ. Von Berlin aus hielt er ständigen Kontakt zu seiner Heimatstadt, zählte weiterhin zum festen Mitarbeiterkreis von Roseggers "Heimgarten" und blieb weiterhin im Grazer Feuilleton durch regelmäßige Gastbeiträge präsent. Bekannt und anerkannt v. a. als Theaterkritiker, trat er auch als Lyriker und Dramatiker in Erscheinung. Er starb 1928 in Berlin.



"Im Rittersaale wird Montag Hermann Kienzl reden", lautet der erste Satz in Golls Manuskript –  eine denkbar vage Zeitangabe, immerhin aber ein Anhaltspunkt: Zu ermitteln war, welche   Montagabendveranstaltung im Rittersaal des Grazer Landhauses der Dichter vor Augen hatte, als er diese Zeilen schrieb. An irgendeinem Montagabend seiner Grazer Periode zwischen Oktober 1905 und Juli 1912 muss dieser Vortrag stattgefunden haben, von den Grazer Blättern angekündigt und besprochen – schließlich war Kienzl damals bereits eine Zelebrität, ein geistiger Repräsentant der Murmetropole im fernen Berlin, jeder seiner Besuche in der Heimatstadt ein öffentliches Ereignis.
Es galt also, die Veranstaltungsseiten der Grazer Blätter dieses Zeitraums zu durchforsten, namentlich die Grazer Montagszeitung und die Grazer Tagespost. Dabei ließ ich mich zunächst von der irrigen Annahme leiten, Golls Feuilleton zum Kienzlvortrag müsse wohl ungefähr zeitgleich mit seinen drei anderen Texten zum Theater entstanden sein, in den ersten Monaten des Jahres 1910, möglicherweise auch knapp davor oder danach. Diese Annahme ließ sich jedoch selbst nach intensivster Suche nicht verifizieren. Es brauchte also einen neuen terminus ante quem, eine neue Hypothese:
Ende 1907 erschien in Berlin von Hermann Kienzl der Band "Die Bühne ein Echo der Zeit", gewissermaßen eine Fortsetzung seines "Dramas der Gegenwart". Da Goll diesen Fortsetzungsband mit keiner Silbe erwähnt, klammerte ich mich nun an die Vermutung, dass sein Text vor dem Erscheinen dieses Buches entstanden sein müsse, und konzentrierte mich im Weiteren auf den Zeitraum zwischen Herbst 1905 und Herbst 1907, abermals ohne Ergebnis. Eine intensive Suche in der Tagespresse dieser zwei Jahre förderte zwar eine große Zahl von Gastbeiträgen Hermann Kienzls in der Grazer Presse zutage, eine lange Reihe von "Berliner Theaterbriefen", doch kein Hinweis auf einen Vortrag des Autors zu Fragen des Theaters.  

Bild "Ende der Rodelhymne vom Jaenner 1908.jpg"
Die letzten Verse von Golls "Rodelhymne"
(Quelle: Steiermärkische Landesbibliothek, Graz)

Manches sieht man erst auf den zweiten Blick: Bei genauer Betrachtung der Reinschrift von Golls Feuilleton fiel mir auf, wie sehr ihr Schriftbild jenem der "Rodelhymne", einem bis dato ungedruckten privaten Scherzgedicht vom Jänner 1908, ähnlich sieht: Die Buchstaben stehen im selben Neigungswinkel auf dem Papier, selbst der Schriftgrad und die Abstände von Wort zu Wort, von Zeile zu Zeile ähneln einander. Also hielt ich in den Zeitungen des Jahres 1908 nochmals Nachschau. Zu Hilfe kam mir dabei der Umstand, dass im Rahmen des ANNO-Projekts der Österreichischen Nationalbibliothek zwar das "Grazer Tagblatt" bereits digitalisiert worden ist; ich war also nicht mehr auf die mühselige Mikrofilmrecherche angewiesen, sondern konnte online weiterrecherchieren. Und siehe da, ich wurde fündig, in der Ausgabe von Sonntag, dem 13. Dezember 1908. Wie in allen Sonntagsausgaben des "Grazer Tagblatts" findet sich da eine große Veranstaltungsseite und auf dieser Seite die folgende Ankündigung für den kommen Tag:

Bild "Veranstaltungsseite Grazer Tagblatt - Kienzl.jpg"

Am Montag, den 14. Dezember 1908, also fand der gesuchte Kienzl-Vortrag statt, zwei Tage nach der Uraufführung von Kienzls Theaterstück "Brautnacht" im Theater am Franzensplatz (dem heutigen Grazer Schauspielhaus). Goll war damals noch keine 22 Jahre alt, ein theaterbegeisterter Student der Germanistik und Romanistik, der, wohl eher noch unregelmäßig, Gedichte schrieb und sich als Dramatiker versuchte. Zu diesem Zeitpunkt dürfte er bereits Mitglied des Akademischen Richard Wagner-Vereins gewesen zu sein, der den Kienzl-Abend veranstaltet hat. Man darf daher annehmen, dass sein kleines Feuilleton unter den Mitgliedern dieses Vereins die Runde gemacht hat (deshalb vielleicht auch die Reinschrift!).

Der rhetorisch raffiniert gestrickte, mit Namen gespickte Text erfordert bei einer Drucklegung heute zweifelsohne einen detaillierten Kommentar. Agnes Sorma und Else Lehmann sind zwar den Theaterkundigen auch heute noch ein Begriff, doch wer weiß noch vom glücklosen Otto Purschian, der als erster Grazer Theaterdirektor zwei Bühnen zu dirigieren hatte: das alte Theater am Franzensplatz und das 1899 eröffnete Stadttheater, die heutige Oper? Seine kurze Ära ging bereits 1903 zu Ende und wurde post festum, wie insbesondere auch Golls Text beweist, alsbald zum goldenen Zeitalter verklärt.  



CONCLUSIO
Da dieser Text nun datierbar geworden ist, lässt sich auch Ernst Golls Dramenfragment (siehe meine Ausgabe, S. 239ff.), zumindest annäherungsweise datieren: Das Schriftbild, die uns hier in der Rohschrift begegnet, findet sich dort wieder. Hier wie dort hat Goll mit Bleistift auf liniertem Papier gearbeitet, trägt seine Schrift die selben Züge.
Der begeisterte Kienzl-Leser wollte es Kienzl offenbar gleich tun, wollte das Theater seiner Zeit nicht nur kritisch begleiten und kommentieren, sondern selbst ein Teil davon werden und mit seinem Wort auf den Brettern, die bekanntlich die Welt bedeuten, Widerhall wecken.