September 2014

Ernst Golls literarischer Lebenslauf

von Christian Teissl

Niemand Geringerer als Peter Rosegger war es, der in seinem viel zitierten Nachruf auf Ernst Goll  ("Heimgärtners Tagebuch", September 1912) den Mythos vom verkannten, geschmähten Poeten bemühte: "Vielleicht hatte er es wohl bei dieser oder jener Redaktion versucht, seine jungen Lieder in die Öffentlichkeit zu bringen. Und in dem Wust des Dilettantengeschreibsels war er zurückgewiesen worden, unbeachtet geblieben, vielleicht in Spott und Konflikt gekommen."
Offenbar hat Rosegger in jenen Jahren sein Leibblatt, die bürgerliche Grazer "Tagespost", nur mehr sporadisch und oberflächlich gelesen; andernfalls hätte ihm in der Sonntagsausgabe vom 17. Juli 1910 der folgende Artikel auffallen müssen:


Man stelle sich nur vor: Ein 22-jähriger Student, Feuer und Flamme für das poetische Talent eines Studienfreundes, von dem die Welt noch nichts weiß, fasst sich ein Herz, bringt eine Lobeshymne zu Papier und sendet sie an die größte Tageszeitung der Stadt, ohne jeden äußeren Anlass, einfach aus Freundschaft, aus Begeisterung für die Sache, aus jugendlichem Überschwang. Und was tut die Zeitung? Sie druckt den Text! Zwar hat der Name des Lobenden ebenso wenig Gewicht wie der des Gelobten, das Lob aber wirkt überzeugend und die zitierten Verse machen Eindruck.  
Für derlei literarische Freundschaftsdienste von Unbekannt für Unbekannt ist in der heutigen Zeitungslandschaft kein Platz, in der Grazer "Tagespost" von anno 1910 aber waren sie möglich.


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Aus dem Konvolut "Kartengrüße Ernst Golls an Fräulein Peperl Koch, Graz", im Besitz der Steiermärkischen Landesbibliothek.

"Kalmann ist bei mir, wir sind sehr lustig", heißt es in einem Feriengruß Ernst Golls nach Graz vom 25. August 1909. Zu diesem Zeitpunkt war aus der Bekanntschaft der beiden gleichaltrigen Studenten bereits eine Freundschadt geworden. Heinrich Kalmann (1888-1948) zählte wie Fritz Oberndorfer (1878-1969), Hans Vucnik (1883-1958) und Fred Fritsch (1884-1963) zu den Aktivisten des 1907 gegründen, von Grazer Studenten getragenen Akademischen Richard Wagner-Vereins, dem Goll eine Reihe wertvoller Kontakte und wesentlicher geistiger Impulse verdankt:
Der Grazer Vortrag von Hermann Kienzl über das Theater der Gegenwart, den der theaterbegeisterte Jungdichter im Dezember 1908 mit enthusiastischen Zeilen begrüßte; die Lesung des Dichteroffiziers Robert Michel, die Goll im Mai 1910 zu einem vielstrophigen Poem inspirierte, und schließlich der Goll-Ertler-Abend vom Februar 1912, der von der Grazer Presse beifällig besprochen wurde – das alles geschah auf Initiative des interdisziplinär angelegten Vereins, der zwar keinen jugendbewegten Wagner-Kult trieb, wie sein Name vermuten lässt, sich aber die Pflege deutscher Geistestraditionen und dezidiert "deutscher Kunst" aller Sparten zur Aufgabe machte, mit Richard Wagner als Schutzpatron.

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Das Adressbuch der Stadt Graz aus dem Todesjahr Golls nennt Bruno Ertler als Vorsitzenden, Heinrich Kalmann als stellvertretenden Vorsitzenden des Akademischen Richard Wagner-Vereins, der zwar de iure bis in die späten 1920er Jahre bestand, de facto aber seine Aktivitäten bereits in Golls Todesjahr eingestellt haben dürfte.
Julius Franz Schütz, Golls Bruder in Apoll und verdienstvoller Nachlassverwalter, war ebenfalls Mitglied dieser Vereinigung, gehörte aber nie zu ihren Wortführern, blieb lieber am Rande, dachte sich sein Teil und ließ die andern reden: "Ich habe noch nirgends soviel geistlose und ekelhafte Streber gefunden wie dort", vertraut er am 7. Dezember 1909 empört seinem bald darauf wieder abgebrochenen Tagebuch an. "Voriges Jahr waren sie eigentlich nur Konzertagentur Firma Richard Wagner, heuer "nähren" sie sich auch von anderem. Wer etwas mehr Geist hat, der darf nicht zu Worte kommen …  Alles regiert die clique Kalmann etc. Der Einzige, der noch halbwegs anständig ist und den sie hündisch umwedeln, ist Pepo Marx."
Joseph ("Pepo") Marx, der in jenen Jahren als junger Liedkomponist und Musiktheoretiker von Graz aus Furore machte, und Julius Franz Schütz, dem mit 19 Jahren bereits Einlass in Roseggers "Heimgarten" gewährt war, erhielten beide von Goll je eine lyrische Grußadresse; auch zur Hochzeit seines Dichterfreundes Wolfgang Burghauser im August 1911 sandte er einen Festtagsgruß in Versen; Heinrich ("Heinz") Kalmann hingegen ist nicht nur Adressat und Widmungträger, sondern als einziger von allen seinen Freunden Protagonist eines Gedichts, das sich in meiner Ausgabe erstmals veröffentlicht findet:

Ein trüber, trüber Sonntag sinkt
Im Abendrot zur Neige,
Ich sitze still – – durch's Zimmer klingt
Heinz Kalmanns Zaubergeige.


Kalmann, nachmals Mitarbeiter des berühmten Grazer Kriminologen Heinrich Gross am Kriminologischen Institut der Universität Graz und Verfasser mehrerer einschlägiger Artikel, ließ es sich nicht nehmen, die Erstausgabe des "Bitteren Menschenlandes" zu rezensieren. Als Plattform diente ihm dafür aber nicht die "Tagespost" oder ein anderes der Grazer Blätter, sondern die in Cilli erscheinende "Deutsche Wacht", die offizielle, zweimal wöchentlich erscheinende Zeitung der Stadt. Seine Besprechung, die von großer persönlicher Nähe gekennzeichnet ist, erschien in der Ausgabe vom 14. Dezember 1912, prominent platziert auf Seite 1, in klassischer Feuilletonmanier "unter'm Strich". "Es ist ein stilles Buch", meint Kalmann über das posthume Debüt seines Freundes, "das in stillen Stunden der Einkehr gelesen sein will, von nachdenklichen Menschen, von solchen, die selbst Sehnsucht im Herzen tragen und unerfüllte Wünsche. Es ist ein Buch, das nur Freunde haben kann wie auch der Dichter nur Freunde hatte oder gleichgiltig Nebenstehende. Und es ist vor allem ein Buch der Liebe. Den Frauen mit den tiefen Herzen, den Segenbringerinnen, schenkt der Dichter seine Lieder; ihnen gilt seine Sehnsucht – sie sind seine Sonne und sein Leiden."  Die Arbeit des Herausgebers weiß Kalmann zu würdigen: "Julius Franz Schütz hat mit Sorgfalt und feinem Verstehen des Freundes Vermächtnis geordnet und uns übergeben. Wir lesen darin und hoffen und beten: Komm Erfüllung – Und unter dem Beten klingt das große Lied vom bitteren Menschenland aus in ungelöstem Akkord wie eines jener traurigen Lieder, die in der Heimat des Dichters die Landleute singen, wenn sie am Abend müde von der Arbeit heimziehen."
Später widmete Heinrich Kalmann seinem Freund noch zwei Erinnerungsblätter: 1922, zu Golls zehntem Todestag, in der Grazer Montagszeitung, 1925 im großen Sammelwerk "Südsteiermark – ein Gedenkbuch", das bei Moser in Graz erschien.



Goll war weder, wie Rosegger fälschlich annahm, von seinen Zeitgenossen schroff zurückgewiesen worden noch ist er zu Lebzeiten unbeachtet geblieben: So sehr Kalmann in seinem Artikel auch das Bild eines weltverlorenen Dichters zeichnet, der seine Verse in den Wind streut, der Welt, der kleinen Grazer Welt kam Goll nach Veröffentlichung dieses Artikels nicht mehr abhanden; sie nahm fortan Notiz von ihm, und manche seiner Verse – die er keineswegs nur verschenkte, sondern sehr wohl zu sammeln verstand, mitunter mehrfach umschrieb und abschrieb, fast immer aber fein säuberlich in ein Heft eintrug (das mir bei meiner Edition die wichtigste Quelle war) – fanden nach und nach ihren Weg in die Öffentlichkeit: Ernst Golls Weg an die Öffentlichkeit
Knapp vor Weihnachten 1910 brachte "Der Herold", eine im Umfeld des Akademischen Richard Wagner-Vereins entstandene, ebenso ambitionierte wie kurzlebige Grazer Halbmonatsschrift "für Kunst, Kultur, Satire und Sport" Golls Gedicht "Andacht":

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Im Jahr darauf druckte die "Tagespost"  in ihren Sonntagsausgaben wiederholt Gedichte von Goll, wovon im Rahmen dieses Blogs schon die Rede war. Am 17. Juli 1912 schließlich, vier Tage nach dem Freitod des Dichters und auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem er ihren Leserinnen und Lesern als "junger steirischer Lyriker" präsentiert worden war, veröffentlichte die Zeitung in ihrem Morgenblatt seine Abschiedsgedichte nebst einem kurzen Auszug aus seinem Abschiedsbrief an Julius Franz Schütz.

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Der literarischen Öffentlichkeit von Graz galten Goll und Schütz bis dahin keineswegs als Dioskuren: Beide zählten sie zwar zu den herausragenden literarischen Nachwuchshoffnungen der Stadt, gingen aber verschiedene Wege; eher neigte man dazu, Goll und Bruno Ertler in einem Atem zu nennen, wie dies etwa Max Pirker in seinem Feuilleton vom März dieses Jahres getan hatte (siehe Neue Funde zu Ernst Goll). Die Geschichte der Freundschaft zwischen den beiden südsteirischen Dichtern, ihr Beginn und ihre Entwicklung, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, da außer dem zitierten Abschiedsbrief keine weiteren Briefe erhalten sind. Es steht allerdings zu vermuten, dass diese Freundschaft nicht bis in Golls Grazer Anfangsjahre zurückreicht, sondern sich erst in seiner letzten Lebensphase entfaltet hat. So richtet Goll am 20. April 1912 an Joseph Marx einen Kartengruß (abgebildet in meiner Ausgabe auf S. 19) mit der Frage, "wann Schütz und ich Dir die Gedichte vorlesen sollen." Schütz wird hier schon ganz selbstverständlich mitgenannt, während er in den Briefen Golls an Elsa Hofmann, deren letzter vom November 1910 datiert (und deren Kenntnis wir allein den Exzerpten von Hubert Fussy verdanken), noch keinerlei Erwähung findet und auch seinerseits im oben zitierten Tagebuchversuch vom Spätjahr 1909 Goll nicht erwähnt.
Die Vorrangstellung, die Julius Franz Schütz nach Golls Tod plötzlich zukam, dürfte innerhalb des Goll'schen Freundeskreises denn auch für einige Überraschung, wo nicht für Irritationen gesorgt haben. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind zwei Briefe, die sich im Nachlass des mit Schütz befreundeten Grazer Lehrers und Literaturforschers Wilhelm Danhofer in der Steiermärkischen Landesbibliothek erhalten haben:
Der erste trägt das Datum 22. Juli 1912, stammt von einer gewissen Rosl Lubas aus Windischgraz und richtet sich an an den mit Goll befreundeten Schriftsteller Wolfgang Burghauser, damals Beamter an der Bezirkshauptmannschaft Cilli (Kürschners Literaturkalender für 1911 gibt noch Windischgraz als seinen Wohnort an, jener für das Jahr 1912 bereits Cilli). Die Verfasserin dankt Burghauser für seinen Nachruf in dem hier bereits erwähnten Regionalblatt "Deutsche Wacht" und verspricht ihm Abschriften verschiedener Goll-Gedichte inklusive einiger "Stammbuchverse" für sein löbliches "Vorhaben" einer "Sammlung" des lyrischen Nachlasses.


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Wolfgang Burghauser (1883-1938)

Burghauser hatte in besagtem Nachruf die Befürchtung ausgesprochen, Golls Gedichte könnten nun in alle Winde "zerflattern"; um das zu verhindern und wohl in der Meinung, niemand anderer würde sich des lyrischen Nachlasses annehmen, scheint er noch im Juli 1912 erste Vorkehrungen für eine Goll-Ausgabe getroffen zu haben. An Verlagskontakten mangelte es ihm nicht: Erst im Jahr davor war sein jüngster Roman, "Kardeiß", eine Parzival-Paraphrase, bei Carl Konegen in Wien erschienen; möglicherweise wäre dieser Verlag ja auch für Ernst Goll zu interessieren gewesen … Kaum aber hatte Burghauser damit begonnen, in und rund um Windischgraz ausgestreute Goll-Gedichte einzusammeln, da kam ihm offenbar  der "Tagespost"-Artikel unter, worin, erstaunlicherweise, von einem geordneten Nachlass die Rede war und von einem Abschiedsbrief an Julius Franz Schütz. Aufs Höchste erstaunt und verunsichert, suchte Burghauser nun wohl Kontakt zu Schütz und bat diesen um eine Erklärung. Sie kam postwendend: in einem Brief aus Mureck vom 27. Juli 1912, der zusammen mit dem Schreiben der Rosl Lubas aus Windischgraz in Danhofers Schütz-Sammlung überliefert ist.

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J. F. Schütz um 1912

Durch diesen Brief stellte Schütz höflich, doch entschieden fest, dass er und niemand anderer Herausgeber des lyrischen Nachlasses sei: "Die Ausgabe gedenke ich bei einem guten Verlage auf meine Kosten zu veranstalten ..." Das anderthalbseitige Schreiben liefert wertvolle Hintergrundinformationen zur hier faksimilierten Erstveröffentlichung der beiden Abschiedsgedichte in der Grazer "Tagespost", erhellt darüber hinaus aber auch die Nachlassituation, die Schütz damals vorgefunden hat:

"Daß die Manuskripte nicht so geordnet waren, wie es aus der Zeitung zu schließen wäre, ist einleuchtend, im Gegenteil ist die Arbeit nicht leicht. Durch seine (= Golls) letzten Verfügungen erhielt ich nur die Gedichte und Tagebücher, letztere aber mit dem ausdrücklichen Auftrag, daß sie nie veröffentlicht werden, sondern eher vernichtet werden sollen. Briefe etc. sind nicht an mich gekommen. (Handschriftlicher Zusatz: Jedenfalls von ihm selbst vernichtet.)  
Der Abschiedsbrief ist  s e h r  a u s z u g s w e i s e, trotzdem mir von bedeutenden Persönlichkeiten dringend geraten wurde, ihn ganz zu geben, veröffentlicht worden. Zu meiner Rechtfertigung gegenüber der Öffentlichkeit werde ich seinerzeit mit der Herausgabe des Buches auch die für mich maßgebenden übrigen Stellen veröffentlichen. Diesmal ist es nur auf D r ä n g e n von außen, dem man ja nie nachgeben sollte, geschehen."


Schützens poetisches Vowort zur Erstausgabe des "Bitteren Menschenlandes" allerdings nimmt auf Golls drei Seiten langen Abschiedsbrief mit keiner Silbe Bezug. Erst Hubert Fussy machte Ende der 1960er Jahre einen längeren Auszug publik; in meiner Ausgabe schließlich wird der volle Wortlaut wiedergegeben.

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Beginn des Abschiedsbriefes von Ernst Goll an das "liebe Schützlein",
NL Goll, Steiermärkische Landesbibliothek, Graz



CONCLUSIO:
Als Goll starb, hatte er seine ersten Talentproben als Dichter bereits vorgelegt, im kulturellen Milieu der steirischen Landeshauptstadt Fuß gefasst und sich einen Namen gemacht. Das beweist nicht zuletzt die breite öffentliche und mediale Anteilnahme an seinem Tod.
Im Juli 1912, als Goll vom "bitteren Menschenland" Abschied nahm, war er aller Hoffnungen ledig und sah für sich keine Zukunft; unter seinen Grazer Freunden und Studienkollegen indessen galt er zu diesem Zeitpunkt als veritable Nachwuchshoffnung, als junger steirischer Lyriker mit einer viel versprechenden Zukunft.