"Ich aber habe Golls Gedichte abgedruckt ..."
Erinnerung an Ernst Decseyvon Christian Teissl
Die Abonnenten von Roseggers "Heimgarten" wussten genau, was sie Monat für Monat erwartete: die jeweils neueste Lieferung eines Romans oder einer Novelle, eine "Kleine Laube" für Kurzangebundene, ein Schwarm "Singvögel", junge und alte, vertraute und fremde, und, nicht zuletzt, eine weitere Folge von "Heimgärtners Tagebuch". Letztere Rubrik allerdings wurde spät eingeführt, erst nach mehr als einem Vierteljahrhundert Heimgärtnerei, im Juli 1904. Hatte sie anfangs noch die authentische Gestalt eines Tagebuchs mit akkuraten Datumsangaben, verwandelte sie sich schon bald in eine Bilanz des Monats, summarisch und unsystematisch, ein buntes Allerlei aus Notizen und Miniaturen.
Auch nachdem Rosegger die Chefredaktion 1910 an seinen Sohn Hans Ludwig abgegeben hatte, führte er "Heimgärtners Tagebuch" weiter. Die letzte reguläre Folge erschien posthum, im Juliheft 1918, doch dauerte es fast noch ein Jahr, bis das Tagebuch unwiderruflich geschlossen wurde: Durch eine Reihe von "Nachlesen" ermöglichte man der Roseggergemeinde einen langsamen Abschied von ihrem Idol.
Noch zu Lebzeiten stellte Rosegger, ein Meister der Mehrfachverwertung, aus seinem "Tagebuch" zwei stattliche Bände zusammen: ingesamt über 800 Seiten, eine großzügige Auswahl. Unberücksichtigt blieb dabei jedoch das Tagebuchblatt, das er im September 1912 Ernst Goll gewidmet hatte – wohl bis heute der bekannteste Nekrolog auf den Dichter, mit Sicherheit aber der spekulativste:
Diese Mutmaßungen über den Freitod Ernst Golls blieben nicht unwidersprochen.
Am 26. September 1912 erhielt Rosegger einen Brief, adressiert an den "hochverehrte[n] Herr[n] und Freund": vier maschingeschriebene Seiten. Die entscheidende Passage lautet wie folgt:
"In einem der letzten Hefte des Heimgartens thun Sie (oder vielleicht Ihr Herr Sohn?) der Grazer Presse ein wenig Unrecht. Es stand dort ein Aufsatz über den verst. Ernst Goll […]. Er fürchtete sich vor dem Leben, aber er hatte Mut zum Sterben.
Nun sagt der Heimgärtner, es habe Goll viell. der Umstand zu dieser That veranlasst, dass seine Gedichte von Redactionen zurückgewiesen wurden und zum Dilettantengeschreibsel geworfen wurden. Was die andern Schriftleitungen thaten – weiß ich nicht. Ich aber habe Golls Gedichte abgedruckt: vom ersten bis zum letzten. Die ersten zwei Gedichte, die er brachte, hatte ich noch selbst in seiner Gegenwart corrigirt, und dann alles von ihm genommen, was immer er schickte oder überreichen liess. Er wurde niemals von mir mit irgendeinem Gedicht zurückgewiesen. Ja, ich habe einen seiner Freunde veranlasst, ein Feuilleton über Goll zu schreiben, das auch in der Tagespost erschien und endlich empfahl ich seinen Nachlass meinem Verleger. […] Dass er am Nichtgedrucktsein litt, dass das n i c h t zutrifft, weiß ich ganz bestimmt."
Nun sagt der Heimgärtner, es habe Goll viell. der Umstand zu dieser That veranlasst, dass seine Gedichte von Redactionen zurückgewiesen wurden und zum Dilettantengeschreibsel geworfen wurden. Was die andern Schriftleitungen thaten – weiß ich nicht. Ich aber habe Golls Gedichte abgedruckt: vom ersten bis zum letzten. Die ersten zwei Gedichte, die er brachte, hatte ich noch selbst in seiner Gegenwart corrigirt, und dann alles von ihm genommen, was immer er schickte oder überreichen liess. Er wurde niemals von mir mit irgendeinem Gedicht zurückgewiesen. Ja, ich habe einen seiner Freunde veranlasst, ein Feuilleton über Goll zu schreiben, das auch in der Tagespost erschien und endlich empfahl ich seinen Nachlass meinem Verleger. […] Dass er am Nichtgedrucktsein litt, dass das n i c h t zutrifft, weiß ich ganz bestimmt."
Der hier Rosegger so entschieden widerspricht, ist niemand Geringerer als Ernst Decsey, seines Zeichens Chefredakteur der Grazer "Tagespost", ein Musensohn, den es unter die Journalisten verschlug, ein Musiker, der zum Zeitungsmann wurde. In Wien war er Schüler Anton Bruckners gewesen, in Graz, wo er seine gesamten mittleren Jahre verbrachte, entfaltete er eine ungemein reiche literarische Tätigkeit, verfasste für sein Blatt nicht nur laufend Konzertberichte und Opernkritiken, sondern auch Feuilletons über "Graz und seine Leute", über verschiedene Gegenden der versinkenden Monarchie, schuf mit seiner dreibändigen Hugo Wolf-Biographie ein Standardwerk und machte sich überregional als Romancier einen Namen, mit Titeln wie "Du liebes Wien" und "Die Theaterfritzl". Im Herbst 1912 war er gerade damit befasst, für Velhagen & Klasing eine Biographie Roseggers zu schreiben. Wie groß muss daher sein Erstaunen, ja sein Entsetzen gewesen sein, als ihm ausgerechnet in "Heimgärtners Tagebuch" Unrecht widerfuhr: ein Affront, der ihn offenkundig so sehr irritierte, dass er an Roseggers Autorenschaft zweifelte und hinter der ahnungslosen Schelte dessen Sohn Hans Ludwig vermutete, damals immerhin bereits federführend im "Heimgarten" …
Wer auch den Nachruf verfasst haben mag, der Vater oder der Sohn, hat eine Legende in die Welt gesetzt, weit entfernt von aller biographischen Realität. Goll hatte seine "jungen Lieder" sehr wohl in die Öffentlichkeit gebracht, und der ihm den Weg dorthin ebnete, war Ernst Decsey.
Ernst Decsey, geboren am 13. April 1870 als Ernst Deutsch in Hamburg, Sohn einer getauften jüdischen Familie, aufgewachsen in Wien, lebte von 1899 bis 1921 in Graz, danach wieder in Wien. Teile seines Werks kamen bereits im Ständestaat als "psychoanalytisch" auf den Index unerwünschter Schriften, 1938 schließlich gehörte er vollends zu den Verfemten, verlor seinen Posten beim "Neuen Wiener Tagblatt". Die näheren Umstände schildert er in seiner Autobiographie "Musik war sein Leben", die posthum 1962 erschien. Mit Berufsverbot belegt, die Vernichtung vor Augen, starb Decsey am 12. März 1941 im Wiener Judenghetto.
Aus dem Karikaturenbuch "Grazer Stars" von Alfred Karl, um 1920. Digitalisat: UB Graz.
Als Ernst Decsey 1908 die Chefredaktion der Grazer "Tagespost" übernahm – damals das führende, meinungsbildende Blatt der steirischen Metropole – wurde das Feuilleton aufgeteilt: in eine Sparte "Theater und Musik" und eine Sparte "Literatur und Kunst". Von da an hatte auch die Lyrik wieder ihren festen Platz in der Zeitung; nicht nur Gelegenheitsverse schöngeistiger Dilettanten, sondern auch literarisch ernst zu nehmende Talentproben der jungen Generation waren von nun an regelmäßig, meist in den Sonntagsausgaben, zu lesen.
Ernst Goll war beileibe nicht der erste und nicht der einzige Grazer Nachwuchsautor, der unter Decseys Ägide in der "Tagespost" zu Wort kam, doch ließ man in seinem Fall deutlich mehr Mühe walten als bei den anderen: Seine Gedichte wurden nicht wie etwa die seiner Freunde Ertler und Schütz kommentarlos veröffentlicht, sie wurden in die Öffentlichkeit regelrecht eingeführt, durch ein Feuilleton, verfasst von Heinrich Kalmann und erschienen in der Ausgabe vom 17. Juli 1910. Wie dem Briefzitat zu entnehmen ist, handelt es sich bei diesem Feuilleton nicht – wie bisher von mir angenommen – um ein auf gut Glück eingesendetes Manuskript, sondern um einen von Decsey in Auftrag gegebenen Text. Wenige Monate später brachte die "Tagespost" an einem einzigen Sonntag fünf Goll-Gedichte: Keinem anderen unter den Jungen Grazern war damals ein solcher Auftritt vergönnt, kein anderer wurde im Literaturteil der "Tagespost" so groß herausgestellt.
Dass Decsey nach eigener Aussage Golls lyrischen Nachlass an seinen damaligen Stammverlag Schuster & Löffler in Berlin empfohlen hat, ist nach alledem nicht überraschend, sollte aber eine vergebliche Liebesmüh' bleiben. Golls Nachlassverwalter Julius Franz Schütz stand bereits in Kontakt zu einem anderen Berliner Verlag: zu Egon Fleischel.
Conclusio:
Ernst Decsey hat sich in seinen zweiundzwanzig Grazer Jahren um das kulturelle Leben der Stadt und des Landes mannigfach verdient gemacht. Zu diesen weithin unbekannten Verdiensten gehört auch die Entdeckung und Förderung Ernst Golls.
Quelle:
Der hier zitierte Brief Ernst Decseys befindet sich im Nachlass Peter Roseggers an der Steiermärkischen Landesbibliothek.
Zur Karriere Decseys innerhalb der "Tagespost" brachte mir die Dissertation "Die Grazer Tagespost von 1900 bis 1910" von Josef Huber-Grabenwarter (Graz 1977) wertvolle Aufschlüsse.
Danksagung:
Der Dank des Verfassers gilt Frau Susanne Eichtinger von der Steiermärkischen Landesbibliothek und Frau Dr. Karin Gradwohl-Schlacher von der Forschungsstelle Österreichische Literatur im Nationalsozialismus, Karl-Franzens-Universität Graz.