Neue Funde zu Ernst Goll
von Christian TeisslIn der kleinen Lebenschronik, die ich meiner Goll-Ausgabe vorangestellt habe, findet sich für den Dezember 1910 der folgende Eintrag:
"Während der 'Brenner' Ernst Goll verschlossen bleibt, bringt die kurzlebige, doch literarisch ambitionierte Grazer Zeitschrift 'Der Herold' in ihrer Dezembernummer sein Gedicht 'Andacht'. Es ist die einzige Publikation zu seinen Lebzeiten, die sich bis dato ermitteln ließ."
Dass es nicht bei dieser einen einsamen Veröffentlichung geblieben sein konnte, war zu vermuten. Zwar brachte der "Herold" keine weiteren Texte von Goll, dafür aber wurde die bürgerliche Grazer "Tagespost", damals, unter Ernst Décsey mit einem gediegenen Feuilleton ausgestattet, auf den jungen Dichter aufmerksam. In ihrer Ausgabe von Sonntag, dem 19. November 1911, druckte sie das Gedicht "Traurige Liebe":
Im selben Jahr hatte Goll für die Faschingszeitung des Marburger Männergesangvereins ein Vorwort in Versen geschrieben, identisch mit jenem "Faschingslied" (S. 133), das zu Golls handschriftlich bestüberlieferten Texten zählt und durch meine Ausgabe erstmals Aufnahme in den lyrischen Werkkorpus gefunden hat. Die Publikationsgeschichte dieses Gedichts, die ich den Lesern im editorischen Apparat meiner Ausgabe schuldig geblieben bin, erschließt sich aus der 1936 in Maribor veröffentlichten Chronik des Vereins:
In meiner Lebenschronik ist die erste Meldung der Grazer "Tagespost" von Golls Freitod zitiert.
Ein in einigen Details leicht abweichender Bericht findet sich im sozialdemokratischen "Arbeiterwillen" vom 14. Juli 1912:
(Die Angabe, Goll habe zum Zeitpunkt seines Todes im vierten Semester Philosophie studiert, ist falsch; er stand bereits am Ende seines Studiums.)
Ist von Ernst Golls Dichter- und Künstlerfreunden die Rede, so fallen stets die Namen Schütz und Marx, nie aber der Name Wolfgang Burghausers; dabei zählte Burghauser zu den vielseitigsten und produktivsten steirischen Autoren seiner Generation. 1913 erschien bei Rowohlt sein Roman "Philuzius Süßmeyrs alltägliche Geschichte"; ihm folgte noch eine Reihe weiterer belletristischer Titel, Heimatromane zumeist, in weniger namhaften Verlagen.
Als lyrische Festgabe für Burghausers Vermählung im August 1911 verfasste Goll ein Gedicht, das in allen bisherigen Ausgaben unter dem Titel "Zur Hochzeit B's" firmierte, in meiner Ausgabe hingegen erstmals unter dem vollständigen Titel zu finden ist. Als ich die editorische Notiz zu diesem Gedicht verfasste (S. 277f.), wusste ich leider noch nichts von dem Nachruf, den Burghauser, damals Statthaltereibeamter in Windischgraz, unter dem Pseudonym Wolhart Gustavson in der "Deutschen Wacht", dem damals zweimal wöchentlich erscheinenden Lokalblatt von Cilli, veröffentlicht hat.
Da dieser Text in vielerlei Hinsicht aufschlussreich ist, möchte ich seinen vollen Wortlaut hier wiedergeben:
Deutsche Wacht (Cilli), Mittwoch, 17. Juli 1912
Ernst Goll.
Ein Requiem.
Es riß ihn aus dem rollenden Leben mitten heraus, jäh und unerwartet. Eine alltägliche Tragik, deren Bericht sich in eine kurze Tagesnotiz der Presse zusammendrängt, hat unter ein junges Leben einen unerbittlichen Strich gemacht. Und das ist gerade das Tragische dabei: wäre er als Fertiger, Ganzer aus dem Leben geschieden, nach vollendetem Lebenswerke, wäre sein Scheiden vielleicht nur eine der abertausend Alltäglichkeiten gewesen. So aber begann seine Lebensbahn erst und schien aufwärts zu führen.
Wer Ernst Goll gekannt hat, der weiß, daß er mit schönheitshungrigen Augen vor seinem Wege stand. Und zauderte, ihn zu betreten. Vielleicht war gerade dieses Schönheitsgefühl die Schuld an seinem Ende. Er sah zuviel ins Leben und nahm zuviel in sich auf. Der schlanke junge Mann mit der etwas vorgeneigten Haltung, als lausche er einer äußeren, unsichtbaren Stimme, die zu ihm geheimnisvoll sprach, er paßte nicht in das Leben der rücksichtslosen Wirklichkeit. Er war zu weltfremd, hatte sich eine eigene Welt gebaut. Und die wollte nicht zu dem Trubel der Menge passen. Er hatte allzuviel den Stimmen zu lauschen, die das Leben in ihm und um ihn anschlug.
Und da er diese Stimme verstand, fand er auch für sie die richtige Ausdrucksform: er war ein Dichter aus schönheitstrunkener Seele. Aber er kargte mit seiner Gabe. Nur das Beste hielt er für wert, aufgeschrieben zu werden, aus dem Augenblick zu stetem Sein zu erwachen. So sind nur wenige Reime von ihm da, schnell hingekritzelt auf den nächstbesten Zettel, die erste Ansichtskarte, als beredter Gruß des Augenblicks an Freunde, Bekannte und junge Mädchen verschenkt, wie diese ihm gerade in der Stunde lieb waren.
Ich bin mit ihm oft in Windischgraz gewandert. Wir sprachen über alles. Und in allem wußte er den richtigen Ton zu finden, das Schöne herauszuspüren. Die Waldwege des Bachern liebten unsere Wanderungen und lauschten unseren seltsamen Gesprächen in stummer Verschwiegenheit, die wir beide so manches zu erleben wußten, daran viel andere achtlos vorübergehen, und die wir manches auch zu sagen verstanden. Er in denkenden Reimen. An mancher Stelle rasteten wir, die den Ausblick ins Tal offen ließ. Die Reden und Meinungen, die wir im Gehen ausgetauscht hatten, verdichteten sich bei solcher Rast zu Gedanken, die alles Schöne zu umfassen und in schöne Form zu kleiden versuchten. Das waren wohl die schönsten Stunden mit Ernst Goll.
Ein Gedicht entstand einmal so, förmlich vor meinen Augen und meinem inneren Erkennen, ohne daß einer von uns beiden ein Wort sprach. Roter Sonnenbrand schoß über den Bergen auf und wir zwei Ungläubige saßen vor einer Kapelle, sahen in den Sonnenuntergang und glaubten in tiefsten Gedanken an alles Schöne, Gute und Große des Lebens. So fand er in wenigen Zeilen ein Gedicht.
Ich kannte alle seine Gedichte. Er sprach sie oft vor. Nicht wie ein eitler Dichterling, der seine Sachen nicht genug oft an den Mann bringen kann, nein, echt und tief aus der Stunde, dem Augenblick heraus. Ungezwungen, wenn es gerade die Stunde so wollte, als hätte sie ihm der Augenblick eingegeben, so selbstverständlich und bescheiden klangen sie.
Nun zerflattern sie vielleicht in den vielen Händen, in denen sie zerstreut sind! Man sollte Ernst Goll einen Ehrenkranz auf das Grab legen, die Gedichte sammeln, um sich ihrer zu freuen und dessen zu gedenken, der jung und hoffnungsvoll im Leben stand und jäh aus dem Leben schied, dessen bitteren Wirklichkeitsbecher er nicht leern konnte und wollte.
Vielleicht drückt ihm dann die Nachwelt den Ehrenkranz des Dichters auf die Stirne, den ihn seine Bescheidenheit bei Lebzeiten meiden hieß.
Ich habe nur ein Gedicht von ihm noch in Händen. Ich feierte meine Hochzeit. Da sandte er mir seinen Dichtergruß:
Es kam ein Bote aus der Sehnsucht Land,
Dem unermeßlich weiten, uferlosen,
Und kränzte schweigend Eures Hauses Wand
Mit der Erfüllung purpurroten Rosen.
Wir aber senden unsrer Wünsche Tauben
Mit weißen Schwingen aus der müden Hand
Und lächeln mild: laßt uns an Wunder glauben:
Es kam ein Bote aus der Sehnsucht Land – –
Wir saßen einmal in einer sternklaren Juninacht zusammen. Wir und ein paar junge Mädchen und Frauen. Da erhob er sich und sprach:
"Die Stunde ist da! Greift nach dem vollen Glas des Glücks, leert es in heiligem Sinnen und dankt der Stunde die Wunder, die sie uns beschert. Zerbrechlich, wie der Stengel des durchsichtigen Glases, ist Zeit und Glück! Fassen wir nur zu und wenn auch das Glas bricht. Vielleicht netzt ein Tropfen des Glücks unsere Lippen! Dem Glück und dem Leben!"
Das soll seine Grabschrift sein!
Ich grüße Dich, Ernst Goll! Vielleicht warst du ein Starker, da Du den Weg nicht betreten wolltest, der Dich zur Höhe führen sollte. Vielleicht – doch was will ich mäkeln und denken?
Ich grüße Dich, jungen Dichter, und grüße Deinen Sarg, der zur Erde kehrt, wo Du gelebt, gehofft und gedichtet hast!
Ernst Goll.
Ein Requiem.
Es riß ihn aus dem rollenden Leben mitten heraus, jäh und unerwartet. Eine alltägliche Tragik, deren Bericht sich in eine kurze Tagesnotiz der Presse zusammendrängt, hat unter ein junges Leben einen unerbittlichen Strich gemacht. Und das ist gerade das Tragische dabei: wäre er als Fertiger, Ganzer aus dem Leben geschieden, nach vollendetem Lebenswerke, wäre sein Scheiden vielleicht nur eine der abertausend Alltäglichkeiten gewesen. So aber begann seine Lebensbahn erst und schien aufwärts zu führen.
Wer Ernst Goll gekannt hat, der weiß, daß er mit schönheitshungrigen Augen vor seinem Wege stand. Und zauderte, ihn zu betreten. Vielleicht war gerade dieses Schönheitsgefühl die Schuld an seinem Ende. Er sah zuviel ins Leben und nahm zuviel in sich auf. Der schlanke junge Mann mit der etwas vorgeneigten Haltung, als lausche er einer äußeren, unsichtbaren Stimme, die zu ihm geheimnisvoll sprach, er paßte nicht in das Leben der rücksichtslosen Wirklichkeit. Er war zu weltfremd, hatte sich eine eigene Welt gebaut. Und die wollte nicht zu dem Trubel der Menge passen. Er hatte allzuviel den Stimmen zu lauschen, die das Leben in ihm und um ihn anschlug.
Und da er diese Stimme verstand, fand er auch für sie die richtige Ausdrucksform: er war ein Dichter aus schönheitstrunkener Seele. Aber er kargte mit seiner Gabe. Nur das Beste hielt er für wert, aufgeschrieben zu werden, aus dem Augenblick zu stetem Sein zu erwachen. So sind nur wenige Reime von ihm da, schnell hingekritzelt auf den nächstbesten Zettel, die erste Ansichtskarte, als beredter Gruß des Augenblicks an Freunde, Bekannte und junge Mädchen verschenkt, wie diese ihm gerade in der Stunde lieb waren.
Ich bin mit ihm oft in Windischgraz gewandert. Wir sprachen über alles. Und in allem wußte er den richtigen Ton zu finden, das Schöne herauszuspüren. Die Waldwege des Bachern liebten unsere Wanderungen und lauschten unseren seltsamen Gesprächen in stummer Verschwiegenheit, die wir beide so manches zu erleben wußten, daran viel andere achtlos vorübergehen, und die wir manches auch zu sagen verstanden. Er in denkenden Reimen. An mancher Stelle rasteten wir, die den Ausblick ins Tal offen ließ. Die Reden und Meinungen, die wir im Gehen ausgetauscht hatten, verdichteten sich bei solcher Rast zu Gedanken, die alles Schöne zu umfassen und in schöne Form zu kleiden versuchten. Das waren wohl die schönsten Stunden mit Ernst Goll.
Ein Gedicht entstand einmal so, förmlich vor meinen Augen und meinem inneren Erkennen, ohne daß einer von uns beiden ein Wort sprach. Roter Sonnenbrand schoß über den Bergen auf und wir zwei Ungläubige saßen vor einer Kapelle, sahen in den Sonnenuntergang und glaubten in tiefsten Gedanken an alles Schöne, Gute und Große des Lebens. So fand er in wenigen Zeilen ein Gedicht.
Ich kannte alle seine Gedichte. Er sprach sie oft vor. Nicht wie ein eitler Dichterling, der seine Sachen nicht genug oft an den Mann bringen kann, nein, echt und tief aus der Stunde, dem Augenblick heraus. Ungezwungen, wenn es gerade die Stunde so wollte, als hätte sie ihm der Augenblick eingegeben, so selbstverständlich und bescheiden klangen sie.
Nun zerflattern sie vielleicht in den vielen Händen, in denen sie zerstreut sind! Man sollte Ernst Goll einen Ehrenkranz auf das Grab legen, die Gedichte sammeln, um sich ihrer zu freuen und dessen zu gedenken, der jung und hoffnungsvoll im Leben stand und jäh aus dem Leben schied, dessen bitteren Wirklichkeitsbecher er nicht leern konnte und wollte.
Vielleicht drückt ihm dann die Nachwelt den Ehrenkranz des Dichters auf die Stirne, den ihn seine Bescheidenheit bei Lebzeiten meiden hieß.
Ich habe nur ein Gedicht von ihm noch in Händen. Ich feierte meine Hochzeit. Da sandte er mir seinen Dichtergruß:
Es kam ein Bote aus der Sehnsucht Land,
Dem unermeßlich weiten, uferlosen,
Und kränzte schweigend Eures Hauses Wand
Mit der Erfüllung purpurroten Rosen.
Wir aber senden unsrer Wünsche Tauben
Mit weißen Schwingen aus der müden Hand
Und lächeln mild: laßt uns an Wunder glauben:
Es kam ein Bote aus der Sehnsucht Land – –
Wir saßen einmal in einer sternklaren Juninacht zusammen. Wir und ein paar junge Mädchen und Frauen. Da erhob er sich und sprach:
"Die Stunde ist da! Greift nach dem vollen Glas des Glücks, leert es in heiligem Sinnen und dankt der Stunde die Wunder, die sie uns beschert. Zerbrechlich, wie der Stengel des durchsichtigen Glases, ist Zeit und Glück! Fassen wir nur zu und wenn auch das Glas bricht. Vielleicht netzt ein Tropfen des Glücks unsere Lippen! Dem Glück und dem Leben!"
Das soll seine Grabschrift sein!
Ich grüße Dich, Ernst Goll! Vielleicht warst du ein Starker, da Du den Weg nicht betreten wolltest, der Dich zur Höhe führen sollte. Vielleicht – doch was will ich mäkeln und denken?
Ich grüße Dich, jungen Dichter, und grüße Deinen Sarg, der zur Erde kehrt, wo Du gelebt, gehofft und gedichtet hast!
Wolfhart Gustavson
Bei dem Gedicht, das vor Burghausers Augen entstanden ist, handelt es sich wohl um den "Herbstabend" vom 25. September 1910, der in zwei Fassungen überliefert ist (in meiner Ausgabe auf S. 123 mit editorischen Anmerkungen auf S. 272): Die zweite, in keiner vorherigen Ausgabe wiedergegebene Fassung beginnt mit der Wendung: "Langsam verblaßt der rote Sonnenbrand".
Während Burghausers Nachruf ganz aus der Windischgrazer Perspektive geschrieben ist, wusste Bruno Ertler so genau und liebevoll wie kein anderer die Grazer Seite und das Grazer Leben Golls zu schildern, in einem Artikel, der zum 10. Todestag des toten Freundes im "Neuen Grazer Tagblatt" zu lesen war. Viereinhalb Jahre später meldete sich Ertler in Sachen Goll noch einmal, ein letztes Mal vor seinem baldigen Tod, zu Wort, mit einer kurzen Rezension der bei Leuschner & Lubensky erschienenen, um sieben Gedichte erweiterten Neuausgabe des "Bitteren Menschenlandes":
Neues Grazer Tagblatt, 15. Dezember 1926
Nicht wegzudenken aus den Grazer Kreisen, in denen Goll und Ertler sich bewegten und in denen sie ersten Widerhall fanden, ist Max Pirker. Verfasser eines heute kaum noch bekannten originellen Buches über die Zauberflöte, in späteren Jahren mit Hofmannthal und Zweig gut bekannt und als Bibliothekar in Klagenfurt ein wichtiger Katalysator des Kärntner Geisteslebens, war er am Vorabend des Ersten Weltkriegs Literatur- und Kunstkritiker der Grazer "Tagespost", gefördert von ihrem damaligen Chefredakteur Ernst Decsey. Dort hat er Goll nicht nur posthum gewürdigt (vgl. das Zitat in meiner Lebenschronik, S. 26), sondern bereits zu dessen Lebzeiten, wie der folgende höchst bemerkenswerte Artikel vom Sonntag, den 24. März 1912 beweist:
Bei den jungen Grazer Dichtern, von denen hier geradezu programmatisch die Rede ist, handelt es sich um Studienkollegen: Julius Zerzer war wie Ertler und Goll Student des Germanistischen Seminars der Grazer Universität; daher das Bild vom "nährenden Mutterboden der Philologie". Zerzer wurde 1912 mit einer Dissertation über Tiecks Oktavian zum Doktor der Philosophie promoviert, Max Pirker, der Verfasser dieses Artikels, im Jahr darauf mit einer Dissertation über Mystik und Symbolik im Schaffen E.T.A. Hoffmanns. Bruno Ertler schloss sein Germanistikstudium während des Ersten Weltkriegs mit einer Arbeit über den Riesen im deutschen Volksepos ab; Ernst Golls Dissertation kam nie zustande.
Der mittlerweile vergessene Julius Zerzer, wie Schütz 1889 in Mureck geboren und früh nach Oberösterreich übersiedelt, wurde seinerzeit insbesondere als formal virtuoser Landschaftslyriker geschätzt ('Das Drama der Landschaft' heißt einer seiner bekanntesten Bände); er starb 1971 in Linz.
Eine genaue Durchsicht von Max Pirkers Nachlass im Österreichischen Theatermuseum blieb im Hinblick auf Ernst Goll leider ergebnislos.
Eine genaue Durchsicht von Max Pirkers Nachlass im Österreichischen Theatermuseum blieb im Hinblick auf Ernst Goll leider ergebnislos.