"... immerdar/ ... ein Kind geblieben"
Ein bislang unbekanntes lyrisches Fragmentvon Christian Teissl
Für jedes der drei unbetitelten Prosafragmente, die ich in meiner Goll-Ausgabe unter die gemeinsame Überschrift "Bericht einer Dirne" gestellt habe (S. 234 ff.), existiert nur ein einziger Textzeuge: jeweils ein loses Blatt, liniert und mit Rand, in der Mitte gefaltet.
Zwei dieser Blätter sind beidseitig zur Gänze beschrieben, in einer für Goll höchst untypischen, nicht sogleich als authentisch erkennbaren, winzigen Tintenschrift; auf dem dritten Blatt hingegen finden sich in derselben Manier nur ganz wenige Zeilen: das mit Abstand kleinste der drei Prosabruchstücke, die zwar in Summe noch keine stringente Geschichte erahnen lassen, zueinander aber unzweifelhaft in Beziehung stehen, als Spuren und Überbleibsel ein- und deselben Prosaprojekts.
Fragment Nr. 3 beansprucht auf seinem Blatt lediglich das obere Drittel der ersten Seite. Den frei geblieben Raum wusste der Autor, stets in Papiernot, anderweitig zu nutzen: In verkehrter Schreibrichtung stehen da etliche, rasch mit Bleistift aufs Papier hingeworfene Verse, die ich 2012 bei der Arbeit an meiner Edition leider nicht berücksichtigt habe, in die verbesserte Neuauflage aber auf jeden Fall aufnehmen werde.
Das Schriftbild dieser Verse ist charakteristisch; es findet sich so oder so ähnlich auch in anderen Entwürfen und Erstniederschriften des Dichters, die man mit einigem Recht allesamt seinen frühen Grazer Jahren (1905-09) zuordnen kann, denn die Schrift seiner letzten Lebensphase (1910-12) trägt bereits deutlich andere Züge.
Quelle: NL Ernst Goll, Steiermärkische Landesbibliothek, Hs. 459
Was auf den ersten Blick wie eine dichte Kolonne von Versen aussieht, mit zwei an den rechten Rand geschriebenen lyrischen Glossen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Abfolge von sieben Strophen, von denen immerhin sechs so gut wie vollständig ausgeführt sind. Auftakt und Ende des im Entstehen begriffenen Gedichts sind bereits klar erkennbar: Die direkte Anrede zu Beginn: "Sieh, es wird ..." erscheint am Ende zum Appell gesteigert: "falte deine Hände".
Die isoliert stehende Strophe rechts oben ("Kam des öfteren im Jahr ...") ist zwar vom Autor als zum Text gehörig markiert, doch ist ihr kein bestimmter Ort zugewiesen; am ehesten unterzubringen wäre sie wohl nach dem lückenhaften Vers "... ein Kind geblieben". Die Strophe rechts unten wiederum kann man, der inneren Logik des Textes folgend, ohne weiteres als Schlussstrophe lesen. Ob der Autor vorhatte, weitere Strophen ein- oder hinzuzufügen, lässt sich nicht sagen, ist aber immerhin denkbar.
Alles in allem steht hier ein bemerkenswerter lyrischer Rohbau vor uns, der in einzelnen markanten Details, wie mir scheint, vorausweist auf Golls oft und gerne zitierte "Grabschrift" vom April 1912.
Nachfolgend eine möglichst punktgenaue Transliteration:
Sieh, es wird zu jeder Zeit
Frohe Menschen geben Die ein Hauch von Kindlichkeit Nie verläßt im Leben. Solche (diese) sind dann allerwärts Glück und ruhlos, immer, Ach, ihr dummes Kinderherz Faßt das Leben nimmer. Solch ein Glückverfehmter war der dies Lied geschrieben <….........................> immerdar <…..........> ein Kind geblieben. All sein kurzes Leben war Täuschung nur und Mühe Und zu seiner Engelschar Rief der Herr ihn frühe. Niemand hat um ihn geweint Kinder nur mit Bangen Ahnten, daß ihr Hort und Freund Aus der Welt gegangen. |
Kam des öfteren im Jahr
Spielte, sang und nannte Glorienschein das Engelhaar Deiner Gustitante. Findst du je den stillen Ort falte deine Hände Daß sein gläubig Hoffen dort Kinderfreuden fände. |
Zu einigen der hier notierten Verse und Strophen stehen auf der Rückseite des Blattes beachtliche, vom Autor aber offenbar verworfene Varianten, abermals in zwei Kolumnen nebeneinander:
Quelle: NL Ernst Goll, Steiermärkische Landesbibliothek, Hs. 459
Allsein kurzes Leben war
Täuschung nur und Mühe Und zu seiner Engelschar Rief der Herr ihn frühe. Siehst du einmal jenen Ort falt' die kleinen Hände //falte deine Hände// Daß sein Kinderträumen dort Himmlische Erfüllung fände! Solch ein Stiefkind Gottes war der dies Lied geschrieben |
Diese sind dann allerwärts
Glückverfehmt und bange. Ach! Ihr dummes Kinderherz Trägt die Qual nicht lang. |